Als Lektorat bezeichnet man üblicherweise das Überarbeiten des Manuskripts durch einen professionellen Lektor/Lektorin oder eine andere Person, wobei Lektorat im engeren Sinne vor allem Arbeit am Text meint, also stilistische oder szenische Eingriffe und Veränderungen zur Optimierung der ästhetischen Wirkung oder Aussage.

Im Idealfall ist der Lektor/die Lektorin ein Gesprächspartner/-partnerin und Reflektor/Reflektorin im gesamten Prozess des Schreibens, von den frühen Phasen der Ideenfindung über die Figuren- und Plotentwicklung bis hin zur sprachlich-stilistischen Überarbeitung.

Die Zusammenarbeit mit einem Lektor/einer Lektorin ist hochsensibel. Sie vertrauen ihr oder ihm etwas sehr Intimes an, in das Sie manchmal Jahre Ihres Lebens investiert haben. Eine vernichtende Kritik kann Lebensläufe verändern. Der falsche Lektor/Lektorin kann einen in die Irre führen, kann einen viel Zeit und Energie kosten, wenn man auf seinen/ihren Rat hin einen Roman umschreibt. Allerdings handelt es sich beim Schreiben um eine Kunstform, und Kunst ist immer auch subjektiv. Man kann nicht, wie in der Mathematik, sagen, etwas ist definitiv richtig oder definitiv falsch. Das macht es so schwierig, weil man Romane in verschiedene Richtungen entwickeln kann. Der Lektor/die Lektorin kann also recht und unrecht zugleich haben - Recht innerhalb seiner eigenen Erfahrungswelt, aber unrecht zum Beispiel dem Markt gegenüber. Am Ende ist dann doch der Autor/die Autorin selbst verantwortlich. Nicht selten ereilt Lektorinnen und Lektoren dann das Schicksal, dass der Erfolg dem Autor/der Autorin, der Misserfolg aber dem Lektor/der Lektorin zugeschoben wird. Ein Lektor/eine Lektorin ist in jedem Fall eine wichtige Bezugsperson im Autorenleben; er trägt daher eine große Verantwortung und sollte in der Zusammenarbeit folgende Punkte erfüllen:

  • Orientierung bieten
  • Das richtige Maß aus Lob und Kritik, Dekonstruktion und Konstruktion finden, und am Ende immer das Schreiben ermöglichen, es nicht verhindern. Kritiker können ein Werk vernichten, aber der Lektor/die Lektorin ist immer der Aufbauende und Ergänzende, der an genau jenen Punkten ansetzt, an denen der Autor seine blinden Flecken hat.
  • Ein Lektor/eine Lektorin sollte die Kriterien seiner Bewertung zu großen Teilen aus dem Buch selbst heraus entwickeln, und sich darauf einstellen können.
  • Der Grad des Eingriffs sollte angemessen sein, also nicht zu übergriffig und nicht zu zurückhaltend (es sei denn, der Text gebietet eines von beiden).
  • Ein Lektor/eine Lektorin sollte seinen eigenen Literaturbegriff, sein Wertesystem sowie seine emotionale Einstellung zum Projekt mitreflektieren. Wenn er eine Story, bestimmte Figuren oder Themen persönlich, aus welchen Gründen auch immer, unreflektiert ablehnt oder auch besonders bevorzugt, wird es schwierig, noch objektiv zu kritisieren. Der Lektor/die Lektorin sollte um seine persönlichen Haltungen (die natürlich immer da sind) wissen und während des Lektorats davon abstrahieren.
  • Er oder sie sollte selbst eine ausgeglichene Lektorenpersönlichkeit sein, möglichst viel Lebens- und Leseerfahrung mitbringen und nicht normativ an Literatur herangehen, also von vornherein nur bestimmte Genres oder Schreibsysteme als „gut“ oder „richtig“ bezeichnen. Falls er oder sie dies doch tut, muss er/sie konsequenterweise Projekte ablehnen, die nicht zu ihm/ihr passen.

Auch Lektorinnen und Lektoren haben blinde Flecken. Es gibt verschiedenen Lektorentypen: Allround-Lektorinnen und Lektoren, die einen guten Überblick bieten, die einen Text, je nach Erfahrung, bis zu einem gewissen Grad verbessern können, aber in tiefere Problemstellungen einzelner Textebenen oder in spezielle Fragestellungen eines Genres nicht vordringen. Dann gibt es Speziallektorinnen und -lektoren, meist in Verlagen, die etwa seit 30 Jahren nur Krimis „machen“, die sich mit den Genres und Subgenres in ihrem Bereich extrem gut auskennen. Sie riechen einen guten Krimi zehn Kilometer gegen den Wind, werden aber vor den Maßgaben eines Liebesromans oder eines literarischen Romans sofort kapitulieren. Bestimmte Genres, so wie Fantasy, Mystery, Horror, aber auch Gattungen wie Lyrik oder Kinder- und Jugendbuch, bilden dabei enger abgegrenzte Bereiche, die eher nach Spezialisten verlangen. Der Vorteil von Speziallektorinnen und -lektoren liegt auf der Hand: Sie sind Expertinnen und Experten ihres kleinen Fachs. Dies ist aber auch zugleich ihr Nachteil. Es fällt ihnen eher schwer, in größeren Kontexten zu denken oder auch mal über den Tellerrand hinauszuschauen. Ein idealer Lektor/Lektorin verbindet beides, er/sie ist ein Allrounder und Spezialist/Spezialistin zugleich, und kennt seine/ihre Grenzen.

Das Lektorat, dessen Intensität und Ausrichtung, hängt natürlich stark von der jeweiligen Arbeitssituation ab. In welchem Zustand befindet sich das Manuskript? Wie weit ist es schon fertiggestellt? Soll es publiziert werden oder nicht? Es ist sinnvoll, solche Fragen vorher zu klären, um den Grad und die Härte des Eingriffs daraufhin anzupassen. Ein Manuskript, das kurz vor der Veröffentlichung steht, sollte ein Lektor/eine Lektorin nicht mehr fundamental umbauen, hier ist die Arbeitsaufgabe eine andere: das beste aus dem vorhandenen Text herauszuholen. Umgekehrt verhält es sich, wenn Sie in einem sehr frühen Stadium mit einem Lektor/einer Lektorin zusammenarbeiten. Hier geht es in der Tat um eine erste Orientierung: Wo stehe ich? In welche Richtung sollte ich mich weiterentwickeln? Welche Themen oder Stoffe bringen mich weiter? An dieser Stelle würde ein Feinlektorat oder Korrektorat nichts bringen. Solange ich noch die Kontinente entwerfe, brauche ich mich um die Blätter der Bäume nicht zu kümmern.

Daraus folgt aber auch, dass ein Lektor/eine Lektorin, wenn er/sie ein fertiges Manuskript erhält, es auf mehreren Ebenen lektorieren kann. Man kann als Lektor/Lektorin unmöglich alle Ebenen gleichzeitig erfassen, sondern muss sich jeweils auf verschiedene Ebenen des Textes fokussieren. Bei einem ernsthaften Lektorat muss man einen Text also, je nach Zustand, mindestens zweimal lesen, auf der Plot- oder der Figurenebene und auf der Sprach- oder Stilebene.

Es ist auch ein Unterschied, ob Sie einen freien Lektor/Lektorin bezahlen, der/die das Manuskript zunächst einmal so gut wie möglich machen soll, oder ob Sie mit einem Verlagslektor/-lektorin zusammenarbeiten, der/die das Manuskript marktreif machen möchte. Dass ein Manuskript in sich schlüssig und gut ist, heißt nicht immer auch, dass es markttauglich ist. Der Markt hat oftmals seine eigenen Regeln, Themen, Hypes und Wellen. Man erlebt es immer wieder, dass Autorinnen und Autoren mit fertigen, bereits von freien Lektorinnen oder Lektoren überarbeiteten Manuskripten an Agentinnen und Agenten oder Verlage herantreten, es aber trotzdem nicht für eine Veröffentlichung reicht. Es ist dann eben doch nicht zwingend genug, es ist zwar solide, es fehlt aber ein echter USP. Hier bietet in der Tat das Selfpublishing eine gute Alternative, und manchmal kommen dann solche Manuskripte „durch die Hintertür“ an einen Verlag.

Die Zusammenarbeit mit einem Lektor/Lektorin ist also eine schwer zu objektivierende Vertrauensarbeit, in der es stark um Grenzen geht, persönliche Grenzen, Geschmacksgrenzen, ästhetische Grenzen. Bewertungen des Lektorats sind hier oft eine Gratwanderung: Ist der Autor/die Autorin beratungsresistent oder wehrt er sich zu Recht gegen bestimmte Eingriffe des Lektors/der Lektorin in den Text? Ist der Lektor/die Lektorin zu vorsichtig (oder unerfahren) oder ist mein Text wirklich schon so gut? Legt der Lektor/die Lektorin zu sehr seine/ihre eigenen Vorstellungen an oder hat er/sie Recht, und ich muss mich ändern? Hier kann man letztlich keine definitiven Kriterien aufstellen, entscheidend ist hier wohl so etwas wie das Bauchgefühl. Fühle ich mich gut aufgehoben, angenommen?

Aber im Wesentlichen ist die Zusammenarbeit mit einem Lektor/einer Lektorin wertschätzend und bereichernd; sie bringt im Idealfall nicht nur künstlerische, sondern auch persönliche neue Erkenntnisse, zeigt Wege auf, bringt einen voran im Ringen um ästhetische Kriterien, öffnet im Gespräch Horizonte und orientiert im Dschungel des eigenen Schreibens. Zum Schreiben gehört natürlich auch die Fähigkeit, Kritik anzunehmen, die Fähigkeit zu vertrauen und die Anmerkungen des Lektors/der Lektorin zumindest mal zu durchdenken. Sehen Sie Kritik nicht als Abwertung an, sondern als Möglichkeit zu lernen. Führen Sie im Zweifel mit Ihrem Lektor/Ihrer Lektorin auch mal eine Metadiskussion, also reflektieren Sie über die gemeinsamen Bewertungskriterien und die Art und Strenge des Lektorats. Auch ein Lektor/eine Lektorin kann besser arbeiten, wenn er weiß, dass Sie eher sensibel oder eher robust im Umgang mit Kritik sind.


Selbstlektorat

Selbstlektorat ist ein Schlagwort, das auf Autorinnen und Autoren eine große Faszination ausübt, weil es suggeriert, dass man den unangenehmen Teil der Fremdbegutachtung selbst übernehmen und damit entschärfen könnte. Aber Selbstlektorat ist ein Widerspruch in sich, etwa wie Selbstmedikation oder Selbsttherapie. Die wichtigsten Voraussetzungen für ein Lektorat sind Erfahrung und Distanz. Die Erfahrung werden Sie nach einigen Romanen vielleicht selbst haben, aber niemals die Distanz.

Durch das ständige Überarbeiten und die Zusammenarbeit mit Lektorinnen und Lektoren werden Sie mit fortschreitender Autorschaft auch ein Lektorenbewusstsein erlangen. Deshalb können Autorinnen und Autoren irgendwann sicher auch gute Lektorinnen und Lektoren sein. Sie können beim Schreiben zunächst den Lektor/die Lektorin „auslagern“ und später mit dem Lektorenblick auf den eigenen Text schauen. Trotzdem glaube ich, dass man eigenen Texten nie dieselbe Objektivität entgegenbringen kann wie ein externer Lektor/Lektorin. Ein gutes Gespräch auf hohem Niveau über die Koordinaten des Schreibens und die Verfasstheit des Textes ist unersetzbar, weil das dialogische Prinzip einen weiter bringt als das monologische.

Sie können, wenn Sie ein Problem haben, auch mit sich selbst reden, aber das wird nie ein Gespräch mit einem guten Freund/einer guten Freundin ersetzen. Ich kenne im Übrigen auch keinen etablierten Autor/Autorin, der/die auf ein kompetentes Gegenüber verzichten würde, einen Partner/eine Partnerin, der/der in der Regel keine eigenen Interessen im Text verfolgt und durch das viele Lesen tief in aktuellen Diskursen über literarische Themen und Ästhetiken drinsteckt – was man zum Beispiel von Laienlektorinnen und -lektoren wie Verwandten oder Freunden nur sehr bedingt erwarten kann. Natürlich können Sie sich mit anderen austauschen, aber ich glaube, Sie können nur etwas lernen, wenn es ein Erfahrungs- oder Wissensgefälle gibt. Sie können immer nur jeweils so weit kommen, wie Ihr Lektor/Ihre Lektorin bereits ist.

Selbstlektorat setzt also Distanz voraus, und zwar große. (Auch Lektorinnen und Lektoren verlieren diese im Übrigen, wenn sie sich zu intensiv oder zu lang mit einem Text auseinandersetzen.) Das hieße aber, dass man einen Text für ein vernünftiges Selbstlektorat erst mal einige Jahre liegen lassen müsste, sodass man ihn wie einen fremden Text betrachten könnte. Dann ist man wiederum zu weit weg, um wieder in die Tiefen des Textes hineinzufinden, wenn er einen dann überhaupt noch interessiert.

Umgangssprachlich bezeichnet das Selbstlektorat aber schlicht und einfach das Überarbeiten auf einer stilistischen Ebene, also zum Beispiel das einfache Tilgen von Adjektiven, das Konkretisieren, Streichen oder Ergänzen. Auch dafür benötigen Sie eine gewisse Distanz zum eigenen Text. Je weniger Distanz Sie zu Ihrem Text haben, umso schwerer wird Ihnen das (Selbst-)Lektorat fallen.

Menu