Skript zum Seminar „Historischer Roman“ im November. Von Christine Steffen-Reimann (Lektorin Droemer-Knaur)

I) Entwicklung des historischen Romans
- Der historische Roman ist ein altes Genre, in dem es auch immer große Erfolge gegeben hat.
- Beginn Siegeszug des historischen Romans in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts: „Der Name der Rose“ von Umberto Eco und „Das Parfum“ von Patrick Süskind – sowohl große Verkaufszahlen als auch wohlwollende bis begeisterte Aufnahme durchs Feuilleton.
- gefolgt von „Der Medicus“ von Noah Gordon und „Die Säulen der Erde“ von Ken Follet: die „wandernden Helden“ (Männliche!) kommen in Mode
- Vorherrschaft der männlichen Helden gebrochen durch „Die Päpstin“ von Donna Woolfolk Cross und Anfang des 21. Jahrhunderts durch „Die Wanderhure“ von Iny Lorentz
- thematischer Wechsel: Individuum statt großes historisches Panorama steht im Vordergrund, die „kleinen Leute“ statt der Herrschenden. Diese Wandlung drückt sich im historischen Roman beispielsweise durch die Hinwendung zu Berufsgruppen aus. Titel wie „Der Goldschmied“, „Die Wachsbildnerin“, „Die Safranhändlerin“, „Die Seidenweberin“ zeugen davon. Im Mittelpunkt dieser Romane steht nun der Lebensweg eines Protagonisten/einer Protagonistin, und durch die Augen dieser Hauptfigur wird das Zeitalter gesehen.

- aktuelle Tendenz zur deutschen Geschichte:
Die AutorInnen verarbeiten deutsche Themen, Figuren und Orte in ihren Romanen. Dies ist allerdings eine Tendenz, die sich nicht nur im historischen Roman findet; zu nennen sind hier nur die Regionalkrimis, die es auf dem deutschen Buchmarkt zu einer wahren Blüte gebracht haben.
Beispiele: Sabine Ebert, Blut und Silber; Sabine Weigand, Die Seelen im Feuer; Andrea Schacht, Der dunkle Spiegel
Mögliche Erklärung: In Zeiten der Krise, aber auch in Zeiten der Globalisierung, verspüren die Leser stärker den Wunsch nach Nähe, nach Überschaubarkeit. Die Verunsicherung in ihrem eigenen Lebensbereich mag dazu führen, dass sie in ihrer Lektüre das Vertraute wiederfinden wollen – und mag es auch in der Vergangenheit zu finden sein. Natürlich bestätigen auch hier Ausnahmen die Regel, denn Rebecca Gablés England-Romane finden nach wie vor ein großes Publikum – sie war aber schon vor dem Boom der „deutschen“ Themen erfolgreich.

- welche Epoche ist am erfolgreichsten?
Die „Herrschaft“ des Mittelalters ist ungebrochen! Mit Ausnahmen funktionieren andere Epochen fast gar nicht: die Antike oder das 19. Jahrhundert, das wiederum in England gerne im Roman verarbeitet wird, sind nicht leicht zu vermitteln.
- Ausnahmen: explizit historischer Frauenroman, bei dem Historie, eine Frauenfigur und eine reizvolle Bezeichnung miteinander verbunden werden. Beispiele „Das Marzipanmädchen“ und  „Die Bernsteinsammlerin“ von Lena Johannson, „Die Kaffeeprinzessin“ von Karin Engel oder „Die Glasbläserin“ von Petra Durst-Benning.
- Worin liegt das Faszinierende des Mittelalters?
1) hängt sicher mit einer gewissen Verklärung zusammen, einer fast märchenhaften Vorstellung vom Mittelalter, die in der Kindheit von Erzählungen von edlen Burgfräulein und tapferen Rittern geprägt wurde
2) drückt sich darin evtl. eine Sehnsucht nach festen Rollen und Regeln aus – die der Leser im modernen Leben nicht mehr findet. Auch wenn keiner auf die Freiheit verzichten möchte, die wir heute genießen, sie wirft den Einzelnen auch auf sich selbst zurück – und im historischen Roman ist in dieser Hinsicht die Welt wieder in Ordnung, weiß man ganz genau, wo oben und unten, wo gut und böse ist.
3) sind es ja in den Romanen aus dieser Epoche gerade oft die starken Frauenfiguren, die über alle Widrigkeiten triumphieren, Gefahren überwinden, sich aus ihrem Umfeld erheben – also ideale Identifikationsfiguren, wenn man aus dem eigenen Alltag mittels Lektüre fliehen will.

- Lesemotivation beim historischen Roman?
      a) Eskapismus
      b) Bildung
Die Leserin/der Leser flieht mit Hilfe des Romans in eine andere Zeit, eine andere Epoche, geleitet von einer Hauptfigur, mit der er/sie sich identifizieren kann. Andererseits aber will man auch etwas „lernen“, will das Gefühl haben, sich in gewisser Weise „gebildet“ zu haben, wenn man das Buch zuklappt. Ganz egal, wie hoch das Anspruchsniveau des jeweiligen historischen Romans also ist, die Recherche muss stimmen, der Hintergrund muss authentisch sein. Das heißt, Kleidung, Gewohnheiten und Bräuche, Essen und Trinken, der Umgang miteinander soll zu der jeweiligen Epoche passen. Denn die Leser sind sehr genau und kritisch.

- Versuch einer Kategorisierung
„Story-driven“ vs. „History-driven“
Bei Romanen, die in die Kategorie history-driven fallen, steht die „große Geschichte“ im Mittelpunkt, die Figuren sind zwar lebendig, führen den Leser aber eher durch die großen Ereignisse. Das „Lernen“ spielt hier für diesen eine große Rolle.
Bei den story-driven Romanen dagegen ist der Hintergrund zwar ebenfalls sehr gut recherchiert, Zeitkolorit sowie Lokalkolorit müssen stimmen, doch entscheidend ist die persönliche Lebensgeschichte der Protagonisten, die meistens nicht tatsächlich existiert haben. Natürlich gibt es unendlich viele Mischformen, doch
der Vorteil dieser Kategorisierung ist, dass es hier in keiner Weise um Dinge wie Anspruch und Niveau geht, sondern dass sich diese Kategorie auf allen Sprachebenen durchdeklinieren lässt.

- Die „Nischen“
Schaut man sich den gegenwärtigen Markt der historischen Romane an, drängt sich der Eindruck auf, dass vier Voraussetzungen gegeben sein müssen, um Erfolg zu haben:
1) Der Autor sollte eine Frau sein
2) Im Mittelpunkt des Romans sollte eine Frau stehen
3) Der Roman sollte im Mittelalter spielen
4) Schauplatz sollte möglichst Deutschland sein

Hiermit sind jedoch lediglich die „Zutaten“ beschrieben, die allem Anschein nach IM AUGENBLICK zu einem erfolgreichen historischen Roman gehören.
Es gibt immer wieder Romane, die von Verlagen ins Programm genommen werden, die diese Kriterien nicht erfüllen,
a) weil sie besonders gut geschrieben sind und eine ganz eigene „Stimme“ aufweisen
b) weil die Hauptfigur – und das kann dann durchaus auch ein Mann sein – den Leser ganz besonders anspricht, aufwühlt und in ihren Bann zu ziehen versteht
c) weil der Hintergrund, vor dem der Roman spielt – auch wenn es sich nicht um Deutschland und nicht ums Mittelalter handelt – so sinnlich, atmosphärisch, auch so innovativ ist, dass man sich ihm nicht entziehen kann
d) der historische Roman z.B. eher als große Frauensaga verpackt wird. (Beispiele: Ana Veloso, „Der Duft der Kaffeeblüte“ oder auch die überaus erfolgreiche Neuseeland-Trilogie von Sarah Lark.
Hier ist für die Leserin weniger der historische Hintergrund als vielmehr die Exotik und das Frauenschicksal interessant. Das heißt also: Die Grenzen werden zunehmend fließend!

Einen weiteren spannenden Workshop zum Thema "Historischer Roman" gibt es im Mai 2010. Mehr Informationen hier.

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