"Das Schöne beginnt da, wo der Begriff nicht hinreicht", sagt der Philosoph und Germanist Hubert Winkels. Ein Gespräch über literarische Jurys, die Utopie für Schriftsteller und die Authentizität in der Literatur heute.

Herr Winkels, wie wird man eigentlich Literaturkritiker?
Ich habe Germanistik und Philosophie studiert und daher eigentlich immer Literatur interpretiert. Über Fichte, Hegel, Schelling und Novalis landete man bei der Literatur, und die wurde gedeutet. Irgendwann wurde mir aber klar, dass man nicht wirklich rankommt an das, was in der Literatur passiert, auch nicht mit den größten begrifflichen Anstrengungen. Man kann die Literatur in ein philosophisches System überführen, aber umgekehrt kann man mit der Philosophie nicht das Innere der Literatur berühren.
Es dauerte eine Weile, bis ich den Sprung zur Gegenwartsliteratur geschafft habe. Das war ja damals immer noch die Literatur der Moderne, die eine Verheißung war. In meinem kleinen gelben Opel Ascona fuhren ein Freund von mir und ich von der Uni nach Hause, und der Freund las Botho Strauß oder Handke und hat mit davon sehr emphatisch auf den Fahrten vorgeschwärmt. Mich hat das anfangs nicht interessiert, ich bewegte mich ja eine Etage höher, bei Novalis oder Schlegel, aber das war schon einer der verschiedenen Infekte, die mich zum Lesen gebracht haben. Dadurch kam ich auch selber zum Schreiben und habe einige Jahre als Schriftsteller gelebt. Und das wandelte sich dann in ein Kritiker-Dasein. Davon könnte ich jetzt lang erzählen, aber ich versuche das in einer kleinen Anekdote. Ich hatte eine Reihe von Aufsätzen zu Gegenwartsliteratur geschrieben und lernte den damaligen Lektor von Kiepenheuer & Witsch kennen, Helge Malchow, der heute der Verlagsleiter ist. Daraus ergab sich nicht nur eine Freundschaft, die schon fast dreißig Jahre dauert, sondern eine publizistische Heimat. An einem bestimmten Abend in Köln in einem Restaurant stellte ich Helge die Hand-aufs-Herz-Frage: „Helge, ich möchte den Band mit Erzählungen jetzt endlich machen. Geht das oder geht das nicht – ich muss das jetzt klären.“ Er fühlte sich unter Druck gesetzt, zu Recht, und sagte: „Ja, wir machen das, das ist hiermit versprochen“ – und ich jubelte innerlich schon – „aber vorher machst du uns einen Band über Literatur. Es interessiert mich ehrlich gesagt mehr, was du ÜBER Literatur zu sagen hast, und dann kannst du deinen Erzählungsband machen.“ Anderthalb Jahre später kam der Essayband „Einschnitte“, der für mich eigentlich nur ein Durchgangsstadium darstellte, doch faktisch war es so, dass alle Welt viel stärker auf den Essayband reagiert hat als auf meine Prosa. Ich habe zwar noch weitergeschrieben, aber auf die Dauer wird man natürlich durch die Ansprüche von außen mitbestimmt. Durch andere Zufälle kam ich dann zur ZEIT und wurde gefragt, ob ich Kritiken schreiben möchte. Wenn Sie das jahrelang machen, können Sie nicht immer sagen, aber EIGENTLICH bin ich Schriftsteller. Dann müssen Sie nach ein paar Jahren sagen, na ja okay, offenbar bin ich EIGENTLICH Kritiker. (Lacht)

Sie sind einer der Knotenpunkte im sogenannten Betrieb, und unter anderem auch in diversen Jurys zu finden, zuletzt in Klagenfurt. Der „Betrieb“ und die Literatur, ist das ein Gegeneinander oder ein Miteinander? Also zerstört der Betrieb eher die gute Literatur oder befördert er sie in Deutschland?
Was ist das eigentlich, Literaturbetrieb? Vielleicht müsste man mal – inklusive mir selbst – darüber nachdenken. Wir sind ja Literaturbetrieb, so wie wir hier sitzen, und es ist seltsam, wenn Sie sagen, der Literaturbetrieb ist etwas Obskures, Ungutes. Wo ist die Tür zum Reingehen, und man guckt, wenn man drin ist, wo ist die zum Rausgehen. So ist das nicht. Die Tür ist quasi überall, wo wir über Literatur reden. Natürlich kann man eine Institutionenkunde betreiben: Wo sind wichtige Schaltstellen, und was ändert sich über Medien, Besitzverhältnisse oder Aufmerksamkeitssteuerung über Zeitungen? Es gibt viele Punkte, bei denen man sagt, klar, das ist sofort erkennbar relevanter Literaturbetrieb, aber die Ränder, an denen das aufhört und in etwas anderes übergeht, sind völlig unklar. Ich glaube, es ist keine produktive Haltung, wenn man immer sagt, ich bin klein und außen, der Literaturbetrieb ist groß und bildet ein Innen. Damit macht man sich das Leben schwerer, als es sein müsste.

Eine klassische Frage ist zum Beispiel, wie Jurys ihre Kandidaten küren. Oft ist es ein Kompromisskandidat, oder es ist jemand, dem man aus politischen oder strategischen Gründen den Preis gibt. Ist so etwas nicht eigentlich von der Literatur weit entfernt?
Jurys sind wieder ein ganz spezieller Teil des Literaturbetriebs, das ist eine Institution, die ihre eigene Geschichte hat und nicht für das Ganze genommen werden darf. Im Prinzip ist ja die mit den Jurys verbundene Idee die der Förderung von Literatur, die auf dem Markt weniger Chancen hat. Also man honoriert einen ästhetischen Anspruch, der vom Markt nicht ohne Weiteres honoriert wird. Das ist traditionell so, allein das ist aber schon eine sehr schwierige Sache, denn erstens gibt es Leute, die das auf bestimmte Weise dominieren und bestimmte Haltungen und Formen durchsetzen, und zweitens schreiben mittlerweile immer mehr Städte oder Kommunen oder Institutionen Preise aus und bezahlen sie auch. Und die sagen relativ unverhohlen, das sie ein Ereignis für die Stadt möchten und einen stattlichen Autor oder ein Buch, das gut lesbar ist. Jahrelang hat man gesagt: Nehmt kluge Fachleute, die sich auskennen, doch mittlerweile merkt man, dass der Markt über die Ansprüche der Geldgeber da reinregiert. Nun ist es auf der anderen Seite so, dass es in der Literatur selber auch die Außenseiterliteratur kaum mehr gibt. Wir hatten ja in der Moderne, vor allem in der Nachkriegszeit, eine starke Strömung der Avantgarde-Literatur. Die Avantgarde-Literatur war immer das Andere, das Gegenteil der Mainstream-Literatur, und das konnte man relativ deutlich auseinanderhalten. Das kann man aber heute nicht mehr. Die publikumsorientierte Literatur hat das Rennen gemacht. Es gibt immer noch experimentelle Ränder, aber die können sich nicht mehr als gleichwertiger Kontinent behaupten, wie das in einer bestimmten Zeit der Moderne der Fall war. Das ändert natürlich auch das Jury-Verfahren. Insofern ist die Jury wieder verknüpft mit allgemeinen Tendenzen sowohl in den Institutionen als auch in der Literatur selber. Wo Sie auch einsteigen, Sie sind sofort in einem komplizierten Gefüge, wo klare Antworten – da geht’s lang und da geht’s nicht lang – so ohne Weiteres nicht zu geben sind.

Diese Differenzierung von Avantgarde und Unterhaltung, von E und U, die ja auch typisch für Deutschland ist, wirkt die noch immer nach? Man hatte ja in den Lektoraten immer sehr hohe Ansprüche an Literatur, auch in den Feuilletons, während Mainstream als Unterhaltungsliteratur abgetan wurde. Ist das immer noch so?
Ja, das ist, glaube ich, weitgehend intakt. Aber da muss man auch wieder unterscheiden. Sieht man sich das seriöse Feuilleton an oder die Kulturseiten in Lokal- oder Regionalzeitungen? Die sehen ganz anders aus. Normalerweise meint man ja immer die fünf, sechs Edelfeuilletons. Man darf sich aber nicht vertun. Die sind zahlenmäßig nicht dominant, nicht einmal auf der Zeitungsebene, geschweige denn, wenn man andere Medien hinzuzählt. Aber zur Literatur: Im Grunde gibt es eine Dreiteilung. Die immer schon stärkste Fraktion – ich rede jetzt vom Feuilleton – ist die anspruchsvolle, unterhaltsame Erzählliteratur, wozu ich jetzt so gut wie alles rechne, von Günter Grass bis Norbert Gstrein, also das, was einfach verhandelt wird. Daneben gibt es, was ich eben die Avantgarde-Tradition der letzten vierzig Jahre genannt habe und die oft verbunden ist mit lyrischen Formen. Die fällt, wie ich finde, auf eine unangenehm starke Weise raus aus der Wahrnehmung, selbst in den Feuilletons. Das ist ein Spezialgebiet geworden, von dem irgendwann nur noch Spezialzeitschriften handeln werden. Und die dritte Sektion, das ist die zahlenmäßig größte, ist die Genreliteratur. Da schafft es ab und zu mal jemand wie Schätzing so viel Interesse zu wecken, dass dann auch mal Herr Greiner in der ZEIT darüber schreibt, aber eher mit dem Gestus „Wir sind neugierig und gucken mal, was da so am Strand noch so rumliegt“. (Lacht) Das wird nicht wirklich ernst genommen. Aber darunter gibt es ja eine unendliche Vielzahl von sehr, sehr gut verkauften Büchern, die wir in der Regel gar nicht wahrnehmen.

Zum Beispiel der historische Roman wird ja, wenn überhaupt, nur als Phänomen wahrgenommen und nicht als Text.
In aller Regel ja, aber mit Ausnahmen. „Die Vermessung der Welt“ war auch ein historischer Roman. Es gibt dann einige, die schaffen es. Da, wo nur die Genreregeln bedient werden, schauen wir nicht hin. Aber da gibt es ein Publikum, und wenn Sie dem etwas geben, was von den Normen abweicht, zum Beispiel, weil es innovativer ist, will das Publikum das nicht. Obwohl man sich als Autor auch klar machen sollte, dass es hochinteressant sein kann zu schauen, was in anderen Formen von Literatur läuft. Man kann zwar sagen, das ist nicht meine Art zu schreiben, aber was ich eine ganz falsche Haltung fände, ist, wenn Autoren mit Anspruch immer nur Autoren mit Anspruch lesen und gar nicht mehr mitkriegen, was überhaupt los ist auf der Welt. Selbst jemand wie Handke, der ja eine zeitlang der größte Elitedenker war – Elite reduzierte sich auf ihn (Lacht) – hat dann den Western entdeckt, fährt durch die USA und versucht, die Perspektive von John Ford einzunehmen. Patricia Highsmith ist auch eine Grenzgängerin. Das gibt es auch immer wieder, dass gute Autoren genrebedienende und genredefinierende Autoren sind. Nichts ist ausgeschlossen.

Sie sagten ja, die Autoren sollten sich nicht so betrachten, hier bin ich, der einsame Autor und da ist der Literaturbetrieb. Aber das Schreiben oder der Schreibprozess sind ja so etwas wie eine Regression, man tritt noch mal in eine Phase, in der man als Kind so ganz unbedarft spielt und seinem Kreationstrieb nachkommt, doch dann muss auch das Kind leider erkennen, dass es verortet ist in einer Gesellschaft, in der es schon ein funktionierendes System gibt. Und wenn man dann mit diesem System konfrontiert wird, ist das manchmal unangenehm. Entweder man hat einen Agenten an der Seite oder man kennt schon Leute aus Verlagen. Autoren müssen also auch ein bestimmtes soziales Verhalten bedienen, wenn sie veröffentlichen wollen.
Ja, das leuchtet mir ein. Die Frage ist nur, wie soll es anders gehen? Es gibt ja keine Institution, die alle Manuskripte, die zugeschickt werden, aufmerksam lesen könnte. Selbst zu DDR-Zeiten, als die Verlage personell wahnsinnig bestückt waren – die hatten ja viermal so viele Leute, wie ein Verlag brauchte – hätte man nicht genug Angestellte, um die eingegangenen Manuskripte alle sorgfältig zu lesen, zu würdigen und dann mit dem jeweiligen Autor ins Gespräch zu treten. Das heißt, es muss ein Selektionsprozess stattfinden. Der ist nicht richtig definiert, sondern sehr ungenau. Ich weiß aber nicht, ob ein Selektierer besser wäre. Dann hätten Sie ja sofort mit Instanzen mit großer Macht. So wie es jetzt ist, ist es alles ein bisschen ungenau, ein bisschen verschwommen, man befürchtet, es ist intrigant, man weiß es aber nicht – keiner weiß es. (Lacht) Es ist wahrscheinlich nicht gut, aber mir fällt nicht einmal unter utopischen Gesichtspunkten ein besseres System ein. Gut, die Utopie, könnte man sagen, ist, dass jeder, der sich ausdrücken will und die Fähigkeit dazu hat, das Recht hat, von mindestens zehntausend Leuten in aufmerksamer Lektüre gewürdigt zu werden. (Lacht) Das würde wahrscheinlich nicht funktionieren. Rein mathematisch gesehen kämen Sie da ins Schleudern. Es führt also, glaube ich, kein Weg an dieser etwas ungenauen sozialen Situation vorbei.

Und da haben wir ja in Deutschland immer noch eine extreme Lebendigkeit, im Gegensatz zu anderen, angloamerikanischen Ländern. Durch diese große Förderung und diese Vielzahl an Verlagen ist es ja hier unglaublich lebendig und dynamisch.
Das finde ich auch, ja. Es gibt ja unzählige Einrichtungen zwischen dem Verlag und dem Autor, die mittlerweile fast dominant werden. Wir sind ununterbrochen in Einrichtungen, die halbdefiniert sind, bei denen man nicht genau weiß, ist das gerade ein Festival, oder ist das ein Symposium, oder ist das ein Klassentreffen? Was spielt sich hier eigentlich ab in diesen Zwischenräumen? Jede Kommune hat doch ihr Fest, da werden lokale Autoren berücksichtigt, dann gibt es Prominente, die stellen dann vielleicht unbekannte Autoren vor, wie die LitCologne als Modell, die Patenschaften. Dadurch gibt es eben auch tausend Wege, wie man mit etwas in Berührung kommt.

Noch mal zurück zu dem Satz, den Sie am Anfang gesagt haben: Die Philosophie berührt nicht das Innerste von Literatur. Was ist das, das Innerste?
Das wäre wieder ein ganz eigenes Seminar. Man könnte diese negative Definition noch etwas verstärken und sagen, das Schöne beginnt überhaupt erst da, wo der Begriff nicht hinreicht. Ich glaube, es gibt Konstellationen zwischen Dingen auf dieser Welt, die uns völlig bezirzen, die wir aber nicht vollständig in rationale Strukturen übersetzen können. Das Schlechteste ist für mich wahrscheinlich eine fundamentalistische Religion und das Schönste ist ein Roman. Selbst als Kritiker – mein Beruf ist es ja sogar, die Übersetzung zu leisten –ist mir immer klar, dass das eine unvollständige Sache ist, und zwar aus konstitutiven Gründen, nicht, weil ich nicht zureichend bin, sondern weil das Schöne immer mehr ist als die Anstrengung, es für sich zu klären.

Vielleicht ist es ein wenig wie mit Menschen. Wenn man einen Menschen komplett versteht, wird’s ja auch langweilig. Dieses innerste Geheimnis muss bleiben, und das ist ja auch genau das, was nicht definiert werden kann.
Ja. Aber es ist natürlich für Autoren die viel interessantere Frage, wie man, Sie haben es jetzt Geheimnis genannt, wie man das überhaupt anstreben kann, mit welchen Mitteln, mit einer Ausbildung, mit technischen Mitteln, mit Handwerk? Verscheuche ich es nicht damit, oder nützt es wirklich? Darf man, kann man solche Ausbildungen machen, bis wo tragen die, und was können die nicht mehr leisten?

Niemand beschwert sich aber über Musikhochschulen oder Kunsthochschulen. Es ist für alle selbstverständlich, dass es diese gibt, und dass man Talent braucht und trotzdem Handwerk schließt sich in der Malerei und der Musik überhaupt nicht aus, seltsamerweise nur in der Literatur.
Aber auch nicht mehr wirklich. Wir haben ja doch viele Beispiele dafür, die Textmanufaktur selbst ist ja auch schon eines. Aber das kann man historisch erklären, in Deutschland war ja die Genie-Tradition in Zusammenhang mit dem Dichter stärker als in anderen Ländern. Und seitdem gibt es immer die Idee, dass es beim Schreiben eine Unmittelbarkeit zu Gott oder zu dem eigenen Innern des Schriftstellers gibt, und wenn da ein Handwerkskasten dazwischen kommt, ist man verstimmt. Weil die Stimme doch die ureigenste ist und nicht noch über formale Prozesse kontrolliert werden sollte. Das führt auch sicher zu diesem Fundamentalismus der Ich-Bezogenheit und so einem Wahnsinn, der darin lauert.

Genie und Wahnsinn hängen eng zusammen, das ist ja auch diese alte romantische Vorstellung.
Genau. Aber deswegen hat man bei der Literatur das Phänomen – und das ehrt sie ja auch ein bisschen –, dass so viele Menschen ihr zutrauen, noch näher an der individuellen Wahrheit zu sein, als jede andere Kunstform, deshalb ist sie noch weniger lehrbar. Das ist falsch, aber es ist ganz schön, dass man ihr das überhaupt zutraut.

Zugleich gibt es die Paradoxie, dass wir alle seit dem ersten, zweiten, dritten Lebensjahr sprechen können, ab dem siebten oder achten schreiben, und alle denken, sie beherrschten das Mittel, das Instrument dazu. Bei der Malerei sagen immer alle: Ich verstehe nichts von Malerei, ich äußere mich dazu nicht. Aber bei Literatur fühlen sich alle berufen.
Ja, das ist wahr. Das ist erklärungsbedürftig, weil, was ist abstrakter und schwieriger als Schreiben, in völlig unsinnlichen, abstrakten grafischen Gebilden. Das ist ein wahnsinniger Lernprozess, der bei uns überhaupt erst seit 1850 auf vollen Touren läuft, vorher gab es 90 Prozent Analphabeten. Man könnte vermuten, aber das müssen die Historiker beantworten, dass diese extreme Verbindung zwischen Seele und Schrift in diesem Genie-Gedanken eine Art Rechtfertigung des Schreibens ist, als Begleitumstand des Alphabetisierungsdrucks. Die Preußen wollten ihre Untertanen voll verschriftlichen und mussten einen wahnsinnigen Druck aufbauen, auch positiven Druck, und haben die Schrift an das Innerste geknüpft. Deshalb ist die Schrift quasi heilig, nicht als Text, aber als Schreibakt. Das wäre ein bisschen ein Kittler'scher Gedanke.

Aber gibt es da nicht auch die andere Tradition, diesen archaischen Prozess, die Beschwörung durch Laute, die Manipulation durch Rhythmen, das Lyrische.
Diese Tradition des Vortrags gibt es natürlich auch. Die deutsche Romantik war ja auch im Kern eine lyrische Bewegung. Und die orale Tradition kommt zurück, wenn wir nur an die Slam Poetry denken, das ist ja geradezu welthistorisch einmalig, es gibt unzählige Lesungen, in jeder Stadt. Ich könnte in meinem Beruf das ganze Jahr über ohne einen einzigen Tag Ausnhame nur herumreisen, von einem Lesefest zum anderen. Allein in Berlin, wo ich öfter Veranstaltungen habe, laufen täglich sieben, acht Lesungen parallel, ohne Festivals. Es wird gelesen, was das Zeug hält, ununterbrochen wird gelesen, das ist fast eine erklärungsbedürftige Entwicklung.

Das hat sicher was mit dem Vermarktungsaspekt zu tun, der Eventisierung von Kunst, vielleicht auch mit der Suche nach dem Erlebnis, dem authentischen Schriftsteller?
Aber diese Entwicklungen passen zusammen, weil das Schreiben mit soviel Ich-Kult aufgeladen wurde, haben Autoren nicht das Gefühl, wie Wissenschaftler, die Texte vorstellen, es geht um die Sache, sondern „ich“ stehe hier zur Beurteilung. Das ist natürlich grundsätzlich eine schwierige Situation, denn mit „ich“ ist die Seele gemeint: Hey Leute, ihr könnt in meine Seele gucken, das ist natürlich eine extreme Situation, weil man das so stark mit Ich-Emphase auflädt und wird zum Problem, wenn es um Kritik geht.

Wir haben es ja gerade in Klagenfurt hautnah erlebt, wie stark Vortrag und Text zum Teil auseinanderfallen, das Publikum reagierte bisweilen völlig anders als die Jury, die die Texte vorher gelesen hat. Manche haben ihre Texte kleingelesen, manche haben ihre Texte aufgebläht, was man, wenn man nur die Texte vor sich hat, nicht spürt.
In Klagenfurt hat ja auch der persönlich emphatischste Text gewonnen, Peter Wawerzinek, der über seine Waisen-Jugend in der DDR schreibt, der es dies noch in der mündlichen Intervention zeigt und verkörpert, also authentischer, mehr „Ich“ in der Literatur kann man überhaupt nicht bringen. Ich habe ja sogar noch versucht, ästhetische Einwände zu machen, sehr vorsichtig, weil ich ihn ja auch schätze, aber es war klar: Alle lieben ihn. Seele öffnet sich, alle applaudieren, da wollen alle unter sich sein, da braucht man eigentlich keine Kritiker.

Ist das nicht die Sehnsucht nach dem authentischen Sich-Zeigen, weil wir das Inszenierte über haben?
Aber vielleicht ist das Inszenierte ja richtiger, vielleicht ist Wawerzinek der Inszenierer, der es geschafft hat, alle glauben zu machen, er inszeniere nicht, während die Rosbacher, die von Anfang an gesagt hat, Literatur ist Inszenierung, bestraft wird, weil sie so kalt, herzlos, auswendig, laut das Ding rausschreit. Man muss sich auch klarmachen, dass Wawerzinek seit zwanzig Jahren mit diesem Thema auf Lesungen unterwegs ist, er aber vor laufender Kamera behauptet, es sei das erste Mal, dass er sich diesem heißen Eisen nähere. Es muss nicht so sein, wie ich sage, aber es ist kompliziert. Ich finde auch, Wawerzinek hat den Preis zurecht bekommen. Die Schichten seiner Arbeit und seines Scheiterns haben sich an diesem Text angelagert, und das hört man mit, und deshalb hat das so eine ungeheure Wucht. Ich sage also, man muss vorsichtig sein mit dem Zuschreiben von Authentizität. Nehmen Sie den Fall Hegemann. Was man in einem Moment als völlig ungefilterte Lebenserfahrung gefeiert hat, wird im nächsten Moment als abgeschrieben entlarvt. Auch hier haben Sie das Verhältnis von Authentiziät und Lügen sofort wieder; und daran können Sie fast alles festmachen, was es in diesem Betrieb gibt, auch, wie schnell so etwas vorbei ist. Sie können nicht drei Monate später auch nur annähernd das Interesse für dieses Phänomen wecken, das wird sofort historisch.

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