Aktuell gibt es Tendenzen zur Konzentration im Verlagswesen, jüngstes Beispiel ist die Kooperation zwischen Aufbau und Eichborn. Zwischen Konzern und Nische – wie behauptet sich Wallstein?
Wenn man in einem großen Verlag ein Buch rausbringt, dann liegt das in vielen Buchhandlungen, eine Woche nach Erscheinen bekommt man die ersten Signale aus den Feuilletons und weiß, ob es eher hochgejubelt oder verrissen wird. Andererseits gibt es eine riesige Produktion, und für 98 Prozent des Programms wird oft gar nichts getan. Und wenn man sich als Autor sagt, ja, ich habe es zu einem großen Verlag geschafft, dann kann das ein Trugschluss sein, denn wenn alle auf den Toptitel setzen, bleibt weder eine Annonce für ihn, noch versucht jemand, Veranstaltungen zu organisieren. Da muss man sich nichts vormachen, die Buchhändler sagen: Ah ja, ein neuer Handke, bestell ich, von Thomas Bernhard habt ihr wieder etwas aus dem Archiv ausgegraben, bestell ich auch, das Debüt lassen wir aus. Sag mir, was dein Spitzentitel ist und dann sage ich, wie viele ich bestelle, das andere brauchen wir eigentlich nicht. Bei Wallstein können wir flach entscheiden, es gibt niemanden über uns, keine Aktionäre oder Eigentümer, die 15 Prozent des Kapitals als Rendite rauskriegen wollen. Der Verlag muss natürlich halbwegs so geführt werden, dass alle Rechnungen bezahlt werden können. Für mich war Wallstein eine Größe, die im Feuilleton wahrgenommen wird, in Buchhandlungen wenigstens vorhanden ist, und trotzdem kann ich nach meinen Ansprüchen entscheiden.

Was bedeutet literarischer Anspruch? Mit Sprache zu arbeiten?
Ich glaube, dass es für jeden Leser gut ist, sich aktiv zu einem Text zu verhalten. Das heißt, der Text spricht in einer gewissen Weise zu mir, aber das hängt davon ab, was der Text will. Und insofern ist es wichtig, möglichst viele Fragen an den Text zu stellen. Wenn ich von Noten keine Ahnung habe, sondern nur gern Musik höre, dann sagt mir ein Notenblatt nichts. Wenn ich Komponist bin, kann ich einen ästhetischen Genuss empfinden, wenn ich ein Notenblatt sehe. Das hat auch damit zu tun, welche Ansprüche ich an Literatur habe, welche Fragen ich an einen Text stelle. Und wenn ich eine bestimmte Antwort erwarte, aber eine andere, vielleicht nur ein bisschen gedrehte Antwort bekomme, nach, zugegeben, sehr viel Lektüre, die mich matt macht, ärgerlich macht oder langweilt, werde ich überrascht. Es ist die Sehnsucht da, überrascht zu werden. Wo laufen meine Fragen ins Leere? Wo hält der Text einer Frage stand? Wo legt der Autor eine Fährte, die vielleicht in eine Richtung führt, die sich am Ende gar nicht auflöst. Was weiß der Leser jeweils an einem ganz bestimmten Punkt? Das sollte, soweit es möglich ist, der Autor mitreflektieren und sich bewusst machen. Der erste Satz muss mich kriegen. Die erste Seite. Wenn die Lektoren keine Lust haben zu lesen, muss der Text so sein, dass man weiterliest.

Das sind ja schon zwei, drei Kriterien oder Qualitätsmerkmale: Informationsvergabe innerhalb eines Textes, Überraschungen, offene Fragen. Was gibt es noch für Kriterien? Rhythmus? Metaphern? Bildhaftigkeit? Und lässt sich die Qualität eines Textes an solchen Kriterien überhaupt festmachen?

Ich glaube, dass man das überhaupt nie abstrakt beantworten kann, sondern dass man es funktional beantworten muss. Eine schöne Sprache heißt ja nicht Adjektivreichtum oder etwas, was man für lyrisch hält, Worte, die emotionsgeladen sind. Nehmen Sie irgendeinen Kafka-Text, die ersten Sätze oder die letzten, mittendrin. Es gibt fast nichts Geheimnisvolleres in der deutschen Literatur als Kafka, aber die einzelnen Sätze sind wie von einem Buchhalter geschrieben. Gerade weil es hart ist, weil es Blöcke sind, die des Poetischen zu entbehren scheinen, ruft es viel in uns auf. Man kann Texte in einem bestimmten Rhythmus anlegen, etwa sehr lange Sätze in Hypotaxen schreiben, vom Hauptsatz geht der erste Nebensatz ab, dann der zweite Nebensatz, der vom ersten Nebensatz abhängt bis zur dritten Ordnung, und dann komme ich langsam wieder hoch. Und der Leser verliert trotzdem nicht die Orientierung, weil er langsam zurückgeführt wird. Das hat in der deutschen Literatur stark abgenommen, weil die Leser das nicht mehr wollen. Manche schreiben nur Hauptsätze, bis zum Extrem, in dem keine Kommas vorkommen. Statt ein Komma zu setzen, beginne ich lieber von vorn mit dem nächsten Satz. Das kann einem natürlich furchtbar schnell auf die Nerven gehen. Wenn man schreibt: „Er geht die Straße lang. Bis zum Supermarkt.“, dann hat das eine bestimmte Funktion. Man kann nicht sagen, das ist gut oder schlecht. Wenn der Erzähler ausgeruht wäre und aus einem erzählerischen Abstand spräche wie Theodor Storm bei „Immensee“, dann sollte er ja, schon bevor er den Satz bildet, wissen, dass die Figur bis zum Supermarkt gehen wird, und nicht dann erst aufgeregt nachtragen: „Er geht die Straße lang. Bis zum Supermarkt.“ Das ist ein Signal, dass der Erzähler stark in die Handlung verwoben ist, alles in dem Moment wahrnimmt. Er kann im ersten Satz noch gar nicht sagen, wo die Reise hingeht, sondern erst im zweiten trägt er es nach. In gewissem Sinne spricht sich darin eine Erregung des Erzählers aus, der nah an seiner Figur, nah an der Handlung ist, und wenn ich als Leser aufgefordert bin, diese Art der Erregung nachzuvollziehen, hängt alles davon ab, ob es gelingt oder nicht. Hier muss man sehr genau schauen: Was will der Text?

Jeder Text stellt also seine eigenen Qualitätskriterien auf.
Genau. Ein Kunstwerk schafft seine Kriterien aus sich selbst heraus. Ich werde oft gefragt: Sie sind also jetzt der böse Lektor, der den ganzen Tag lang Ablehnungen schreibt? Woher haben Sie denn Ihre Kriterien? Und dann sag ich: Ja, wissen Sie, ich möchte eigentlich gar keine Ablehnungen schreiben. Ich möchte viel lieber Zusagen geben, das wäre für mich viel einfacher. Dann hätte ich zehn Manuskripte auf dem Tisch, eins lehne ich ab, neun Mal sage ich zu, dann brauche ich nur die zehn lesen pro Jahr und habe meine Arbeit schon mehr als getan. Es ist ja für mich nicht wünschenswert, dass ich tausend Manuskripte lesen muss, um einmal „ja“ zu sagen. Ich behaupte ja gar nicht, dass ich das literaturgeschichtliche Schwert bin, das über Qualität und Nicht-Qualität entscheidet. Ich entscheide für mich alleine, auch im kleinen Wallstein Verlag oder vorher bei Suhrkamp oder Kiepenheuer, und der Autor hat noch zweitausend andere Möglichkeiten, sein Manuskript bei einem Verlag unterzubringen. Ich weiß, dass es einen subjektiven Faktor in meinen Entscheidungen gibt. Ich bin auch ganz ohne Illusion, wenn ich Kritiken lese, das sind schon gar keine objektiven Instanzen, und Literaturgeschichten mit einem dreißigjährigen Abstand sind auch nicht wahnsinnig objektiver. Ich muss leider jedem Autor sagen: Die Chance, dass du bei der ersten Unternehmung sofort eine Zusage kriegst, ist nicht groß, und es gehört zum Autorsein dazu, eine Menge Kummer zu ertragen und trotzdem an das zu glauben, was man schreibt, und es so gut zu machen, wie es geht. Man muss mit Absagen umgehen lernen. Für Autoren ist es wahnsinnig wichtig, sich erst einmal klar zu machen, was das für ein Verlag ist, bei dem sie sich bewerben. Was ist das, was ich selber schreibe? Wo passt das hin? Ein Autor sollte auch ein Leser sein, die Bücher der Verlage, an die er sich wendet, schon mal in der Hand gehalten haben. Wenn ich Mails bekomme und sehe im Briefkopf, das hat der Autor an Suhrkamp, Wallstein, Hanser, Bastei Lübbe und alle möglichen Selbstverleger geschickt, dann habe ich schon keine Lust anzufangen.

Früher, so mein Gefühl, waren Adjektive noch nichts Böses, das gab es eine unglaubliche Fülle von Adjektiven, während uns heute überwiegend eine sehr nüchterne Sprache begegnet. Kurze Sätze, in der Regel Hauptsätze, Lakonie. Ist das ein ästhetischer Wandel durch die Moderne, durch die immer geringer werdende Aufmerksamkeitsspanne, oder ist das ein Mangel an Fähigkeiten?
Klar, es ist auch ein ästhetischer Wandel, aber das gab es auch schon immer. Es gibt von Mark Twain diese Anekdote: Als er noch bei der Zeitung gearbeitet hat, sagte er einem jungen, zwei Etagen unter ihm arbeitenden Kollegen: Immer, wenn Sie ein Adjektiv verwenden wollen, kommen Sie bitte hoch, um mich zu fragen, ob sie das dürfen. Natürlich, Adjektive können einen Text prunkvoll machen, ihm Geschmack und Farbe geben, und natürlich ist es Quatsch zu sagen, ein Text darf keine Adjektive haben. Aber man sieht das sehr häufig, dass Autoren generell vor ein Substantiv zwei Adjektive stellen: eine gelb-rote Blume mit einem süßlich-bitteren Geschmack. Wenn diese Konstruktion im ersten Absatz viermal auftaucht, wird man schon misstrauisch. Ist das wirklich nötig oder findet der Autor diese Worte nicht aus Verlegenheit, weil es romantischer klingt?

Lektoren legen oft schon nach der ersten Seite das Manuskript weg. Ist das so? Oder wie weit lesen Sie ein Textangebot?
Das passiert sehr häufig, dass nach der ersten Seite nicht weitergelesen wird, aber was jemand für interessant hält, kann sehr unterschiedlich sein. Wenn ich einen ersten Satz lese: „In einer tiefdunklen Nacht durchriss ein Schuss die atemlose Stille“, dann habe ich eigentlich schon nach dem ersten Satz genug. Das ist kein Satz, der mich wahnsinnig erotisiert. Anders als etwa Bobrowskis „Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater“. Hier dienen die ersten anderthalb Seiten nur dazu, wie man die Geschichte eigentlich erzählen kann. Aber das kann ein anderer Lektor ganz anders beurteilen. Es ist häufig so, dass ich denke, solche Sätze, egal, was da an Handlung vorher oder nachher kommt, kann ich mir gar nicht vorstellen in einem Buch bei Wallstein. Dann schaue ich noch mal, ob das vielleicht einer Figur in den Mund gelegt ist und die Figur charakterisieren soll, nicht den Text, aber wenn ich an anderen Stellen noch mal ein paar solche Sätze entdecke, dann sage ich nein. Das geht nicht anders, weil die Zahl der Manuskripte sehr hoch ist. Ich lese soweit, bis ich eine Entscheidung treffe. Tendenziell lese ich immer noch zu viel, weil ich dann unsicher bin und ein Gefühl von Verantwortung habe, was am Ende trotzdem nicht immer zu einem „Ja“ führen kann. Ich werde nicht dafür bezahlt, um meine Zeit in die Absagen zu investieren, sondern dass ich Bücher mache, die in der literarischen Kommunikation und im Literaturbetrieb eine Rolle spielen.

Eine klassische Frage: Wie kommen die Texte zu Ihnen? Die unverlangt eingesandten Manuskripte, Agenturen. Inwieweit schauen Sie sich selber um bei Wettbewerben?

Die Verteilung ist ungefähr gleichgewichtig. Ich habe in meiner Laufbahn Vieles ganz normal aus der Post genommen, auch von Unbekannten. Ich habe sehr viele Empfehlungen von Autoren bekommen, weil Jüngere sich oft an Ältere wenden und fragen, ob man was für sie tun kann. Wettbewerbe, Literaturzeitschriften, oder Veranstaltungen sind genauso wichtig. Aber man muss sich auch in aller Brutalität klarmachen: Es gibt ganz viele Verlage, die im Jahr gar kein Debüt haben oder in drei Jahren nur eines. Das ist bei uns ein bisschen mehr, weil wir relativ jung sind, aber wenn man in einem Jahr zwei Debüts macht und im nächsten Jahr wieder und im Folgejahr wieder, dann sind das sechs Leute, aber die vom ersten Jahr brauchen ungefähr zwei Jahre, um ein neues Buch zu schreiben, das heißt, es sind nach drei Jahren acht und so weiter. Man strebt natürlich an, dass man mit den Leuten, die man in den Verlag holt, weiterarbeitet und dass die mit einer gewissen Regelmäßigkeit neue Bücher vorlegen. Und das beschneidet stark die Möglichkeiten, Debüts zu machen.

 

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Führung im Wallstein Verlag durch Mitverleger Thorsten Ahrend

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