"Fremdheit ist in der Literatur kein Nachteil"

Für literarische Texte gelten andere Regeln als für Sachtexte. Beim belletristischen Schreiben ist mehr möglich – oder sogar alles? Mit der Suhrkamp-Lektorin Martina Wunderer sprachen wir über Schmutzränder, sprachlichen Eigensinn und darüber, wie Autoren mit einer anderen Muttersprache die deutsche Literatur bereichern.     

Frau Wunderer, wer Sachtexte lektoriert, arbeitet mit klaren Kriterien. Auch Genretexte folgen bestimmten Regeln, die ein Lektor im Blick hat. Gilt das auch für literarische Texte?
Natürlich gibt es gewisse Regeln der deutschen Sprache, die auch für literarische Texte gelten, dort aber gedehnt und auch unterlaufen werden können. Ich glaube, dass es in der Literatur immer darum geht, nicht in einer verbrauchten Alltagssprache steckenzubleiben. Oft sind es gerade die sogenannten Schmutzränder, die einen Text auszeichnen. Etwas, über das der Leser vielleicht stolpert, das seine Wahrnehmung, seinen Blick auf die Welt ändern kann. Aufgabe des Lektors ist es, sich bei jedem Text aufs Neue in den persönlichen Ausdruck des Autors einzufühlen. Es geht nicht darum, mit einem Bügeleisen drüber zu gehen und den Text zu glätten, sondern ihn in seiner Eigenständigkeit und Eigenwilligkeit zu bewahren. Es geht anders als in wissenschaftlichen Texten auch nicht um eine größtmögliche Klarheit und Eindeutigkeit der Begriffe, im Gegenteil: Mehrdeutigkeit ist oft ein wichtiges Merkmal literarischer Texte. In einem Sachtext steht die Sprache dem zu vermittelnden Inhalt im besten Fall einfach nicht im Weg. Anders ist es in der Literatur, wo die Sprache auch einen großen Eigenwert hat.

Wie gehen Sie an das Lektorat eines literarischen Textes heran?
Zunächst versuche ich, mich völlig vorbehaltslos auf den Text einzulassen. Deshalb lese ich ihn das erste Mal immer ohne Stift in der Hand und lasse die Stimme, den Rhythmus, den Ton auf mich wirken. Beim zweiten Durchgang geht es dann ans Eingemachte.

Ans Eingemachte – was heißt das für die Arbeit am Text?   
Meine Aufgaben als Lektorin sind vielfältig. Zum einen bin ich für den Faktencheck zuständig, etwa wenn der Roman Bezug auf tatsächliche Ereignisse nimmt oder andere Quellen mit einbezieht. Das andere ist die Arbeit am Text. Ich korrigiere nicht nur die Orthographie, sondern prüfe, ob es Perspektivbrüche, falsche Tempiwechsel oder logische Fehler gibt, merke an, wenn eine Metapher schief oder ein Vergleich unglücklich ist oder wenn der Autor übers Ziel hinausschießt. Vielleicht kann man ein paar Adjektive streichen, ein Bild anschaulicher machen oder etwas umstellen.

Können Sie Eingriffe in den Text immer sachlich begründen, oder geht das manchmal auch „nach Gefühl“?
Klar ist es am einfachsten, wenn man sagen kann: Das ist ein faktischer oder logischer Fehler oder dieses Wort wird anders geschrieben. Oder: Diese Redewendung ist falsch, das Kind ist eben nicht „ins Wasser gefallen“, sondern „in den Brunnen gefallen“. Schwieriger wird es, wenn es um den Ausdruck geht. Natürlich ist mein Leseeindruck ein persönlicher, aber es ist deshalb umso wichtiger, Eingriffe zu begründen. Ich versuche immer, aus dem Text heraus zu argumentieren, beispielsweise, wenn ich mich an etwas stoße, wenn mir bei einer Metapher kein Bild vor Augen steht oder wenn ein sprachlicher Fremdkörper auftaucht, etwa ein Begriff aus einem völlig anderen Sprachregister oder ein englisches Wort in einem Text, der sonst nicht mit Anglizismen arbeitet. Wenn sich bei mir eine Irritation einstellt, möchte ich mich mit dem Autor darüber austauschen, ob er sie bewusst geschaffen hat, ob sie eine Funktion im Text hat, oder ob es einfach passiert ist und geändert werden sollte.

Sie betreuen auch Autorinnen mit fremdsprachigem Hintergrund, beispielsweise Ann Cotten, die in Iowa geboren wurde, aber in Wein aufwuchs und deshalb auch in der deutschen Sprache sozialisiert wurde. Was ist hier anders?  
Es ist sehr spannend zu beobachten, dass Ann Cotten die deutsche Sprache möglicherweise auch aufgrund ihres fremdsprachigen Hintergrunds nicht gedankenlos verwendet. Autoren nichtdeutscher Muttersprache haben oft einen anderen, einen fremden Blick auf die deutsche Sprache. Ausgehend von dem Sprachwechsel, den sie vollzogen haben oder weiterhin vollziehen, gehen sie oft anders mit dem Sprachmaterial um, das ihnen zur Verfügung steht. Sie betrachten Sprichwörter, Metaphern, Vergleiche oder sprachliche Wendungen, die sich eingebürgert haben, und versuchen erst einmal zu verstehen: Was steckt dahinter? Mit diesem fremden Blick können sie oft den Eigenwert der Sprache stärker machen und die deutsche Sprache bereichern.

Sind Sie da als Lektorin anders gefordert als bei nur deutschsprachigen Autoren?
Für mich ist es immer wieder schön, wenn ich mir diesen fremden Blick auf die eigene Sprache aneignen kann und eine Redewendung, ein zusammengesetztes Wort oder auch grammatikalische Strukturen plötzlich mit anderen Augen sehe. So gelingt es, Neues im Alten zu entdecken. Wenn ein Sprichwort oder eine sprachliche Wendung aus der Muttersprache ins Deutsche transportiert wird, können ganz tolle Bilder entstehen. Das sind oft Bilder, die auf den deutschsprachigen Leser im ersten Moment fremd wirken, aber Fremdheit ist ja in der Literatur kein Nachteil.

Martina Wunderer hat Vergleichende Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften/Cultural Studies in Wien und Berlin studiert und ist seit 2010 im Lektorat für deutschsprachige Literatur des Suhrkamp Verlags tätig und betreut Autoren wie Ann Cotten, Angela Krauß und Urs Faes.

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