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"Romane von dieser Welt"

Dr. Petra Gropp, Lektorin im S. Fischer Verlag, spricht im Interview über die Autorenbetreuung im Fischer Verlag, das Finden von guten Debüts, und darüber, wie die Digitalisierung die Verlage betrifft. Die Lektorin wurde 1974 in Mainz geboren, studierte Germanistik, Literaturwissenschaft und Romanistik in Mainz und Dijon, war als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Mainz tätig und arbeitet seit 2003 als Lektorin im S. Fischer Verlag. Sie betreut unter anderem Christoph Ransmayr, Clemens Meyer und Judith Herrmann.


Du bist Lektorin in einem der wichtigsten Publikumsverlage Deutschlands. Wieviele Autoren betreust du?
Wir denken in Programmzeiträumen, Herbst und Frühjahr, und haben jeweils zehn Bücher im S. Fischer-Programm. Davon entfallen statistisch auf mich zwei. Das klingt genauso wenig wie insgesamt zwanzig Autoren, die ich betreue, und doch ist es viel Arbeit, denn ich habe mit den Autoren ja eigentlich immer zu tun: Wenn der Autor das Manuskript schickt, folgt die Textarbeit, zugleich müssen wir Covergestaltung, Vorschau- und Klappentexte, Marketingmaßnahmen etc. besprechen. Wenn das Buch erscheint, beobachten wir die Presseresonanz, es gibt Veranstaltungen, im besten Falle Preisverleihungen, und anschließend folgt die Phase, in der sich ein neues Projekt formt. Da bin ich oftmals auch schon Ansprechpartner. Es geht also immer wieder von vorn los.

Ist dieser Schlüssel zwischen Lektor und Autor einer der Erfolgsfaktoren für den Fischerverlag, also die Strategie, in die Tiefe zu arbeiten statt in die Breite?
Wir verstehen uns als Autorenverlag, und der Lektor ist der Ansprechpartner für den Autor in allen Belangen. Das kann auch ins Persönliche gehen, oder kann auch finanzielle Fragen betreffen, und natürlich die ganze literarische Entwicklung. Dafür fühlen wir uns zuständig, wenn ein Autor das möchte.

Also kommt auch mal jemand zu dir und sagt: „Petra, ich bin pleite.“
Selbstverständlich. Wir brauchen einen neuen Vertrag… Könnt ihr noch etwas vorschießen... Können wir etwas vorziehen... Für Autoren, die häufig in einer prekären Lebenssituation sind, ist das immer ein Thema. Man muss sich bewusst sein, dass vom Schreiben die wenigsten leben können. Das gilt selbst für die, die man im Literaturbetrieb kennt. Und dementsprechend sind natürlich auch die Einkünfte manchmal überschaubar. Deswegen sind Lesungen so wichtig, Preise so wichtig, Stipendien so wichtig. Das sind alles zusätzliche Einnahmequellen. Denn vom Buchverkauf allein können tatsächlich die wenigsten leben.

Auflagenzahlen korrespondieren also nicht zwingend mit dem Bekanntheitsgrad.
Genau. Wir haben Titel bei uns im literarischen Programm, die sich mehr als dreihunderttausendmal verkaufen. Das sind die, die uns den Rücken freihalten für alles andere. Es sind aber Ausnahmefälle. Zwanzigtausend für einen sehr literarischen Roman sind schon sehr gut, auch zehntausend sind eine gute Zahl, wir kennen aber auch vierstellige Auflagenzahlen. Das hängt aber in keinem Fall mit literarischer Qualität zusammen.

Stichwort literarische Qualität: Was versteht ihr im Verlag darunter?
Das ist immer eine interessante Diskussion. Wir suchen ständig nach neuen Autoren und Debüts, auch wenn das im Jahr meistens nur einer sein kann, weil wir bei zehn Titel im Halbjahr und den vielen Autoren nicht viele Möglichkeiten haben. Wir lesen viel, wir diskutieren viel in der Lektoratsrunde, und letztlich läuft es immer darauf hinaus, dass wir einen Text suchen, der uns von dieser Welt so erzählt, wie wir es noch nicht gelesen haben. Am Ende stehen meistens die Fragen: Ist es eine interessante Form? Ist es eine interessante Sprache? Ist es ästhetisch etwas Neues? Es sind gar nicht so sehr Themen, die verhandelt werden, und schon gar nicht die Frage nach Modethemen.

Du sagst, von "dieser Welt", ist psychologischer Realismus für euch also eines der Hauptkriterien?
Nein, überhaupt nicht. Autoren sind Zeitgenossen und werden uns etwas, das mit dieser Welt zu tun hat, in welcher Geschichte auch immer, erzählen. Thomas von Steinaecker schreibt gerade an einem dystopischen Roman, der in der Zukunft spielt. Ganz viele Fragen und Projektionen, die er formuliert, sind Dinge, die gegenwärtig virulent sind: Was ist der Mensch? Was verstehen wir noch unter Humanismus?

Man kann also nicht sagen, dass es einen gewissen Überdruss an Themen gibt? Wenn jetzt jemand mit einem Roman aus dem Zweiten Weltkrieg oder mit einem Wenderoman kommt, würdet ihr dann von vornherein schon sagen: Das Thema ist durch?
Überhaupt nicht, nein. Von Clemens Meyer erscheint im Herbst der neue Roman, der eine Stadt zeigt, die Leipzig-Halle ist, aber nicht so heißt, und der im Rotlichtmilieu spielt. Aber was er eigentlich in dieser Geschichte erzählt, ist, was in den letzten 25 Jahren in diesem Osten passiert ist, als Märkte neu aufgeteilt wurden, Karrieren abgebrochen sind, die Regeln sich änderten. Ob das eine Wendethematik oder eine Weltkriegsthematik ist, ist gar nicht vordergründig relevant.

Gibt es sprachliche Kriterien, die dir wichtig sind? Etwas, wo du aufhorchst oder aufmerkst, wenn du einen Text in die Hand bekommst?
Man kann nicht sagen, wonach man sucht. Es muss das Überraschende sein. Es muss eine eigene Form haben, eine eigene Sprache, Notwendigkeit. Umgekehrt formuliert: Es dürfen keine Bilder sein, die man schon oft gelesen hat. Nichts, was zu naheliegend ist. Fridolin Schley hat von einem eigenen Ton gesprochen. Man kann es auch Stil nennen. Genau darauf kommt es an. Nabokov hat gesagt: „Eine Brille, die keinem anderen passt.“ Ist es eine Stimme, die mir etwas erzählt, was ich vorher noch nicht in dieser Art formuliert gefunden habe? Jemand wie Felicitas Hoppe, die übrigens auch ein Gegenbeispiel für das psychologisch-realistische Erzählen ist, hat natürlich einen ganz eigenen literarischen Kosmos. Marlene Streeruwitz oder Ernst-Wilhelm Händler entwerfen eine eigene sprachliche Welt. Natürlich hat es psychologisch-realistisches Erzählen leichter, ein Publikum zu finden, das heißt aber nicht, dass das unser erstes Kriterium ist.

Wie kommt ihr zu neuen Debüts und neuen Autoren?
Wir haben das große Glück, dass zurzeit viel deutsche Literatur gelesen wird und viel junge Literatur. Es gibt ein großes, enges Förderungssystem von den Schreibschulen über Open Mike bis zu Klagenfurt, sodass einem eigentlich nichts entgehen kann, wenn man die Augen ein wenig offen hält. Wir fahren nach Klagenfurt, wir lesen Literaturzeitschriften, bekommen Empfehlungen von Autoren … Es gibt sehr viele Kanäle. Viele Debütanten sind so jung, weil es dafür eine mediale Aufmerksamkeit gibt. Wenn Autoren nicht mehr ganz so jung sind, positionieren wir sie nicht als Debütanten, sondern sagen eher: Das ist ein interessantes Buch, und es ist das erste Buch dieser Autorin. Vor drei Jahren hatten wir Corinna Schnabel im Programm, die ihr Leben lang an einem Buch geschrieben hat. Sie war etwa siebzig, als es veröffentlicht wurde. Das hat es nicht einfacher gemacht, weil die mediale Aufmerksamkeit deutlich auf ganz junge Autoren fokussiert ist, aber es hält uns nicht davon ab, das Buch zu veröffentlichen und alles zu versuchen, was möglich ist, um der Autorin ihr Publikum zu verschaffen.

Wie nehmt ihr die Veränderung in der Branche wahr, die jetzt allenthalben diskutiert wird: die Digitalisierung, E-Books ... Verändert das auch das Berufsbild des Lektors? Ändert sich das Selbstbild von Verlagen?
Wir Lektoren spüren die Entwicklung am wenigsten. Der Verlag veröffentlicht Neuerscheinungen natürlich als Printbücher sowie als E-Books. Es war ein langer Prozess, aber jetzt ist der Vertrieb aufgebaut, die Produktion ist umgestellt. Für uns ist das im Lektorat aber unerheblich, ob wir den Text für eine digitale oder eine Papierausgabe bearbeiten. Natürlich stellt sich verstärkt die Frage: Was bieten Verlage Autoren, und was können Autoren jenseits der Verlage tun? Das, was früher so ein bisschen anrüchig war – Selbstverlag –, ist heute eine völlig valide Möglichkeit, gerade auch für große, umfangreiche Projekte. Ein mehrbändiger Zyklus wird es in einem konventionellen Verlagshaus sehr schwer haben. Für ein solches Projekt ist ein digitaler Verlag eine gute Möglichkeit: Die Produktionsmittel sind zugänglich, und der Kanal zum Leser ist direkt.

Und da fühlt sich der Verlag nicht unter Druck gesetzt, und betrachtet das als Konkurrenz?
Noch ist das Renommee der konventionellen Verlage hoch genug, dass die Selbstpublikation eher der zweite Schritt ist. In den USA ist die Situation noch einmal forcierter. Renommierte Autoren fragen sich irgendwann: „Wofür brauche ich den Verlag eigentlich noch?“, nachdem der Verlag sie bekannt gemacht hat. Wenn ein sehr bekannter Autor sagt: Na, jetzt mach ich’s aber mit Amazon, weil ich da viel höhere Anteile bekomme, dann ist das denkbar; ohne großen Namen ist es jedoch schwieriger, ein Publikum zu finden. Wobei ich mich auch frage: Wer macht die Pressearbeit? Und wer organisiert die Veranstaltungen? Und unsere Antwort in den S. Fischer Verlagen ist die ganz intensive Autorenbetreuung, die Amazon nicht bieten kann.

Welchen Stellenwert nimmt im Fischerverlag der Vertrieb der Literatur als E-Book ein?
In der Literatur spielt das weniger eine Rolle als im Bereich der Genre-Bücher und der großen Bestseller. Schaut man sich die Spiegel-Bestsellerliste an, ist Literatur kaum vertreten. Wenn man Glück hat, ein Titel unter den ersten zwanzig. Anders ist es im Bereich der populären Genres: Krimi, Frauenunterhaltung, Young-Adult. Hier ist der Anteil der verkauften E-Books recht hoch. In der Literatur nimmt es auch zu, aber in geringerem Ausmaß. Die Literatur funktioniert konventionell immer noch über die großen Rezensionen, selbst wenn diese keine direkte Auswirkung auf die Verkaufszahlen haben. Das hat etwas mit Renommee zu tun, mit literarischer Wahrnehmung.

Haben das Feuilleton und die Kritiken denn gar nichts mit den Verkaufszahlen zu tun?
Nicht direkt, nein. Einzelne Kritiken schlagen sich nicht nieder. Was zurzeit eine große Auswirkung hat, sind die beiden Preise: Leipzig und Frankfurt. Wer beim Frankfurter Buchpreis auf der Longlist oder der Shortlist steht, der hat die Aufmerksamkeit sowohl des Feuilletons, der Veranstalter sowie des Handels. Dann kommt alles zusammen. Wer nicht auf dieser Liste steht, hat es in allen Bereichen schwerer. Die Besprechungen werden hintenan gestellt und kommen zwei Monate später, der Handel bezieht wesentlich zurückhaltender, die Veranstalter sind ebenfalls zurückhaltender. Wir haben also eine große Konzentrationsbewegung auf eine Handvoll Titel pro Saison. Rezensionen helfen in der Regel nur, wenn sie flächendeckend kommen. Wobei, manchmal hat man eine wahnsinnige Pressemappe, und der Verkauf bleibt dennoch überschaubar.

Es gilt also immer noch, dass man Bestseller nicht planen kann?
Richtig. Und in der Literatur ist es völlig unvorhersehbar. Silvia Bovenschen, eine Wissenschaftlerin, Essayistin und Intellektuelle, die aufgrund ihrer Krankheit viele Jahre lang sehr zurückgezogen gelebt hat, schrieb vor einigen Jahren einen erzählten Essay übers Älterwerden. Sie war unserem Haus lange schon freundschaftlich verbunden, und wir haben gedacht: „Das ist ja wunderschön, ein kleines Buch, wir nehmen es ins Programm.“ Dabei haben wir völlig unterschätzt, dass in den ganzen Redaktionen Redakteurinnen sitzen, die sie noch von früher als Feministin kannten. Das Buch hatte einen unglaublichen Erfolg. Wir haben es achtzigtausendmal verkauft, ohne es vorher geahnt zu haben. Umgekehrt macht man manches Buch stark und setzt eine Kampagne dahinter, und es läuft dann nicht so, wie man es sich gewünscht hat. Das ist aber auch das Spannende an der Branche.

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