Für Autoren taucht immer wieder die Frage auf: Bis zu welchem Punkt muss ich das Manuskript noch überarbeiten, und wann ist es zu viel überarbeitet – gibt es diesen Punkt überhaupt?

Den gibt es definitiv, es gibt sogar einen Ausdruck dafür, der heißt „overwritten“. Es gibt Romane, die so lange korrigiert sind, bis sie ZU richtig geworden sind. Wann es genug ist, dafür gibt es keine Faustformel. Man sollte immer ein Grundgefühl für das Unerledigte haben und sich beim Überarbeiten in der Auseinandersetzung mit diesem ganz speziellen Punkt befinden. Und davon würde ich das unterscheiden, was ich als das kalte oder kühle Überarbeiten bezeichnen würde, das heißt dort, wo man sich „nur“ auf der Ebene bewegt: Welches Wort wechsle ich aus, welchen Absatz tue ich hinein oder nicht hinein, bei dem man eigentlich gar keine inneren Entscheidungskriterien hat, sondern nur vage die Vorstellung, ob das irgendwie hineinpasst oder nicht, ob die Wortwahl der Stimmung zuträglich ist oder nicht. Das sind aber relativ beliebige Vorstellungen, denn mal ist man in der Stimmung, mal ist man in einer anderen Stimmung. Im Grunde genommen ist der Punkt, wo die Beschäftigung mit dem eigenen Text endet, dann erreicht, wenn man das Gefühl hat, dass man nicht restlos alle Fragen geklärt hat, aber der Text in sich einen Halt hat. Dann sollte man tatsächlich erst einmal aufhören zu arbeiten.

Autoren lassen sich häufig verunsichern durch das Lektorat. Man sagt etwas Kritisches, das impliziert aber, dass das andere gut ist und stehen bleiben kann. Dann fangen aber Autoren an, komplett alles neu zu schreiben. Wie ist Ihre Erfahrung? Sind Autoren irgendwann gefestigter? Oder ist die Verunsicherung immer wieder da?

Es ist die Frage, um welche Art von Lektorat oder Redaktion oder welche Art von Auseinandersetzung mit dem eigenen Text es geht. Ist das Unbehagen dem eigenen Text gegenüber so groß, dass man ihn tatsächlich komplett neu schreiben will? Um mal ein Beispiel zu skizzieren: Man hat verschiedene Figuren, man hat einen Mordfall, den man aufklären möchte und denkt, das könnte ein gutes Psychogramm werden, stellt aber dann, nachdem man den Text geschrieben hat, fest, das es eigentlich nicht um die Aufklärung des Falles, sondern um eine Figur gegangen ist, die bei der Arbeit immer dominanter geworden ist. Dann muss ich in der Tat unter Umständen neu schreiben. Es gibt sehr unterschiedliche Grade von Überarbeitung und insofern ist die Frage: Ab wann setzt welche Bearbeitung eines eigenen Textes ein? Da möchte ich zunächst einmal für größtmögliche Freiheit und für größtmögliche Nicht-Bearbeitung plädieren. Man sollte sich weniger von dem Anspruch, wie der Text sein soll, leiten lassen, als vom eigenen Schreibgefühl, seinem eigenen Schreibduktus, denn man darf nicht vergessen, dass Literatur ohne Überarbeiten gar nicht zustande kommt. Grundsätzlich kommt das literarische Moment in einen Text durch seine Überarbeitung. Aber in der praktischen Arbeit heißt das nicht, dass ich mich hoch ambitioniert und hoch angespannt an das Schreiben setze, sondern mir erst einmal den Freiraum lasse, saumäßig schlechte Sätze zu schreiben, im Zweifelsfall einen völlig fehlkonstruierten Text, damit in den Text etwas wie ein Duktus, ein Fluss hineinkommt und dann versucht, im Überarbeiten das, was diesen Text wesentlich ausmacht, herauszupräparieren, immer weiter zu bergen. Insofern ist der Zeitpunkt sehr wichtig, wann dieses Überarbeiten und das erste etwas kritischere Umgehen mit dem eigenen Text beginnt. Da möchte ich eher für einen späteren Zeitpunkt plädieren und erst einmal für mehr innere Unabhängigkeit und Gelassenheit gegenüber allen möglichen Fehlern.

Es gibt aber auch Autoren, die schreiben Satz für Satz und schreiben nicht weiter, bevor nicht der Satz steht. Oder die bauen sich einen detaillierten Handlungs- oder Szenenplan.

Wir reden im Augenblick von zwei Ebenen. Erst einmal, wie organisiere ich meine Arbeit, und dann als zweites, wie organisiere ich meine Überarbeitung. Es gibt Autoren, die schreiben alles in ein kleines schwarzes Heft. Schreiben ist ja zunächst nichts anderes als mit Worten auf das, was man erlebt, zu reagieren. Wie man die Arbeit organisiert, Recherche betreibt, konstruiert, das muss jeder für sich herausfinden. Es ist nur wichtig, diese Dynamik zu verstehen: Im Konstruieren eines Plots oder einer Handlungsführung versucht man vor allem, einen Anfang und ein Ende für die jeweilige Geschichte zu finden. Diese sind so wesentlich, weil sie die Struktur der Geschichte festlegen. Es ist sehr wichtig, sich dafür den Freiraum zu gönnen – wie immer man das auch tut. Ich kenne Autoren, die unendlich streng arbeiten. Die haben ein Konvolut an durchnummerierten Punkten, die sie Wort für Wort, Satz für Satz abarbeiten. Es gibt Autoren, für die diese Art der Arbeit tödlich wäre, weil sie jeglichen spontanen Impuls, den sie zum Schreiben brauchen, abtöten würde, die ein offenes Feld brauchen und sich in dieses offene Feld hinein entwickeln. Der entscheidende Punkt ist tatsächlich die Suche nach dem Anfang und nach dem Ende und damit, noch etwas ambitionierter formuliert, nach dem Geist der Geschichte: Worum geht es eigentlich?

Irgendetwas muss über die Geschichte tragen, entweder der Plot oder der Geist oder das Thema, oder es ist der Tonfall. Man hat ja auch oft das Gefühl, dass der Text schon richtig ist so wie er ist, weil er dem eigenen Erzählton entspricht.

Ja, das ist glaube ich eine ganz wichtige Sache, ein Stück seiner inneren Stimme zu finden. Und dieses Finden der inneren Stimme ist auch die Antwort auf viele Fragen nach Unsicherheiten. Diese Unsicherheit kann man nur schwer über Äußerlichkeiten beantworten, sondern es ist ein Stück Kontakt, den man zu sich selber, zu sich als Erzähler braucht. Die eine ursprüngliche Idee gibt es in der Kunst überhaupt nicht, sondern die erste Idee ist eigentlich schon eine, die aus der Überarbeitung kommt, nämlich aus der Überarbeitung von Ideen, die in einem abgesunken sind, die wiederum auftauchen, und auf die man, indem man mit einer anderen Idee antwortet, auf einmal eine Resonanz bekommt. Das heißt, Sie befinden sich, wenn Sie schreiben, schon längst in einem Auseinandersetzungsprozess mit sich selber, in einer Dauerrevision von Dingen, die Sie bereits getan, gedacht, empfunden haben. Insofern ist das Umschreiben eigentlich der Grundimpuls des Schreibens.

Sind Texte eigentlich nie fertig? Jeder Autor kennt den Moment, wenn er sich zehn, fünfzehn Jahre alte Texte anguckt und die Hände über dem Kopf zusammenschlägt. Das geht ja auch veröffentlichten Autoren so. Das war aber für den Autor der bestmögliche Text zu diesem Zeitpunkt, und irgendwann ist er finalisiert und es gibt eine externe Instanz, in der Regel der Verlag, der sagt, ja, das ist publizierbar. Ob das dann zehn oder zwanzig Jahre gültig ist, ist ja eine ganz andere Frage.

Ich kann sogar sagen, dass es fast nie gültig ist, ich kann Sie sofort darauf einstellen, dass Sie nach fünfzehn Jahren sagen werden, oh, wer hat denn das eigentlich geschrieben? Und das hängt ganz einfach damit zusammen, dass Sie sich in Ihrer Beschäftigung mit sich selber weiterentwickeln. Das wiederum ist keine Frage von besser oder schlechter. Sondern es ist die Frage, an welchem Punkt der Entwicklung Sie sich befinden.

Seminarteilnehmerin: Man findet nach einiger Zeit die eigene Sprache, und die schlägt sich hauptsächlich in der Satzstruktur nieder. Aber manche Autoren neigen dazu, zum Beispiel sehr blumig zu schreiben und Dopplungen zu verwenden. Das ist dann zwar die innere Sprachmelodie, der Text ist aber trotzdem zu blumig. Was mache ich dann?

André Hille: Man wägt immer ab, auch als Lektor, wenn man sich mit einem Text befasst – entscheide ich mich tendenziell eher für den Rhythmus eines Textes oder tendenziell eher für seine Stringenz? Und das hängt natürlich auch noch von ganz anderen Faktoren ab, nämlich davon, wer erzählt. Habe ich einen Ich-Erzähler, dem ich diese blumige Sprache zutraue, oder ist es gerade die Autorin, die hier so blumig erzählt? Das muss man abwägen und ins Verhältnis zueinander setzen. Wenn ich das Gefühl habe, das ist nicht die Sprache der Figur, sondern die Sprache der Autorin, die aber nicht zur Figur passt, dann muss ich anfangen zu streichen. In dem Moment, würde ich sagen, überwiegt die Kohärenz über den Tonfall. Oder man nimmt einen Ich-Erzähler, der blumig veranlagt ist, der darf dann auch so sprechen. Wobei dann immer noch die Frage ist, will der Leser das auf 300 Seiten lesen? Es sind immer Abwägungsprozesse, ob die nun im Autor oder im Gespräch zwischen Lektor und Autor stattfinden. Ein Text ist ja letztlich auch nur eine Assoziationskette, die nach Plotmustern oder anderen Kriterien sortiert ist. Und deshalb: Alles was im Text steht, hat auch seinen Sinn und man muss es sehr ernst nehmen. Am Anfang greift man als Lektor manchmal zu rigide in Texte ein, weil man meint, so viel zu sehen. Aber man muss Textstellen sehr, sehr ernst nehmen. Die Abwägungsprozesse zwischen Sprachmelodie und Kohärenz, kennen Sie die aus Ihrer Arbeit auch?

Klaus Siblewski: Ja. Und vor dem Hintergrund müsste man eigentlich bei Thomas Mann die Hälfte rausstreichen. Der sagt ja immer wieder dasselbe, sogar mit denselben Worten, dabei hat man hat es schon nach zwei Sätzen begriffen, insofern ist er eigentlich höchst redaktionsverdächtig (lacht). Ist er aber doch nicht, und daher ist es schwierig, mit allgemeinen Kriterien an Texte heranzugehen, weil man für alle Argumente immer Gegenbeispiele findet. Die erste Frage, die man sich stellen sollte, ist tatsächlich die: Hat jedes Wort das da steht, eine Notwendigkeit? Jeder von Ihnen hat die Erfahrung gemacht, dass Sie anfangen, etwas zu schreiben und Sie merken, dass noch etwas anderes hinzukommt. Meistens sind Sie sogar beglückt darüber, denn Sie stellen auf einmal fest, dass das toll ist, was da dazukommt. Das heißt, Sie tun etwas, was noch etwas anderes in Ihnen zur Resonanz bringt. Ich kann es auch anders formulieren: Schreiben ist der Versuch, kontrolliert vorzugehen, aber es ist immer ein Stück Unbeherrschbares darin enthalten. Dieses Unbeherrschbare müssen Sie zulassen, aber es ist natürlich durchaus notwendig, das zu überprüfen und sich am Ende klar zu werden, was man da eigentlich ausdrücken will. Und diese Frage ist für mich die selbstredaktionelle Frage, nicht zuerst stilistisch allgemeine Fragen, die können später auf einer viel äußerlicheren Ebene folgen.

André Hille: Meine Erfahrung ist, dass dieses Unbeherrschte am Ende oft das Schönere ist. Das Wollen zerstört den Text, während sich im Unbeherrschten plötzlich die künstlerische Schönheit entfaltet.

Klaus Siblewski: Bei diesem Willen merkt man das Abwägende, dass jemand mit einer feinen Waage gearbeitet hat, jedes Wort austariert. Das ist zwar eine wichtige Frage, aber die kommt ganz zum Schluss. Als erstes ist die wirkliche Auseinandersetzung zu führen und sich zu fragen, warum steht das Wort da, was wird an Absicht und Stimmung transportiert?

Seminarteilnehmerin: Das Zulassen ist das eine, aber für mich heißt Überarbeiten auch sich verabschieden von Passagen, die zwar so geschrieben sind, aber die im Herausfiltern des Wesentlichen, das ich vorher vielleicht noch nicht erkannt hatte, keine Rolle mehr spielen.

Klaus Siblewski: Richtig. Viele Textteile entstehen überhaupt nur dazu, um etwas anders schreiben zu können. Das Schreiben ist, was ich vorhin schon angedeutet habe, ein permanentes Überarbeiten, wobei die früheren Stufen wegfallen. Es ist aber ganz wichtig, dass man nicht zu früh schaut und sich damit im Schreibfluss blockiert. Die konkrete Arbeit kann natürlich sehr unterschiedlich aussehen. Ich kenne Autoren, die sehr viel schreiben und wenig übriglassen, es gibt auch Autoren, die laufen zwei Jahre durch die Gegend und schreiben gar nichts, bei denen verbirgt sich der Roman im Kopf. Aber im Grunde findet die dauernde Auseinandersetzung auch dort statt, nur ohne Papier und im Kopf.

André Hille: Ein Text muss also einen Geist haben, und das ist auch eine Art innerer Kompass. Manchen Texten verzeiht man Adjektive und Klischees, man liest darüber hinweg, weil der Text einen Geist hat und einen mitnimmt. Und wenn ein Text diesen Geist nicht hat, werde ich nörgelig und fange an, Sätze auseinanderzunehmen. Das ist, glaube ich, der innere Kompass und den muss man als Autor oder im Gespräch mit dem Lektor finden.

Klaus Siblewski: Absolut. Man sollte die Auseinandersetzung mit dem Text tatsächlich bis zu dem Punkt geführt haben, an dem man sagt: Jetzt habe ich alles, was ich wirklich sagen und zum Ausdruck bringen wollte, realisiert. Und dann gibt eine zweite Phase, in der man jemand Zweiten braucht, der darauf schaut. Das hat nichts mit Qualität des Textes oder der eigenen Autorschaft zu tun. Ich sags mal etwas hemdsärmlig: Schreiben ist wie ein Aufschlag im Tennis, eben nie ganz beherrschbar. Schreibprozesse sind einfach zu kompliziert, insofern braucht man jemand anderen, der darauf schaut.

 

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