In Ihrem Debütroman „Binde zwei Vögel zusammen“ geht es um Albert, der als Statist in einem Trainingscamp für Afghanistan-Soldaten arbeitet. Albert spielt Aladdin, einen afghanischen Cafébesitzer, und die Grenzen zwischen Identität und Rolle verschwimmen immer mehr. Wie sind Sie zu diesem Stoff gekommen?
Durch eine persönliche Begegnung mit einer jungen Frau, die an so einem Trainingskamp teilgenommen hat. Sie hat mir von ihren Erfahrungen berichtet und ich konnte ihre Aufzeichnungen lesen. Als ich angefangen habe, mit dem Stoff zu spielen, Gedanken zu sortieren und mir Notizen zu machen, habe ich gemerkt, dass ich ganz schnell eine Sprache dafür finde. Besonders gereizt hat mich dabei die Bewusstseinsverschiebung: wie die Grenzen zwischen dem Darsteller und seiner Rolle verschwinden, sich die Identität auflöst. Das fand ich einerseits sprachlich reizvoll, aber auch als Auseinandersetzung mit meiner eigenen Realität.

Was hat die Geschichte mit Ihrer Realität zu tun?
Auf den ersten Blick hat sie nicht viel mit mir zu tun, die Figur ist weit von mir entfernt. Trotzdem war es für mich ein ganz persönlicher Stoff und ein Umgang mit vielen Dingen, die mich zu dieser Zeit selbst verunsichert haben. Wenn ich etwas erzähle, will ich etwas herausfinden. Das hat für mich mit einer Suche, einer Forschungsreise, dem Aufbruch ins Unbekannte zu tun. Schreiben ist immer auch ein Umgang mit den Dingen, die ich nicht verstehe. Vielleicht halte ich dieses Nichtverstehen im Schreibprozess besser aus.

Haben Sie denn etwas herausgefunden?
Die Inszenierung von Realitäten, wie sie in diesem Dorf ihren Ausdruck findet, lässt sich auf sehr viele verschiedene Bereiche unserer Gegenwart übertragen. Ein Beispiel ist die mediale Inszenierung von Kriegsereignissen, die dann in dieser Inszenierung auch sehr austauschbar wirken. Oder die Inszenierung von Lebensläufen und die Frage, ob wir in unserem Berufsleben nicht austauschbare Rollen spielen. Es war faszinierend, wie viele Parallelen zu meiner Realität sich eröffnet haben und wie Zusammenhänge plötzlich sichtbar wurden. Ich habe also nicht unbedingt Antworten gefunden, aber einen anderen Zugang zu meiner Welt. Ich finde es wichtig, dass Geschichten einen neuen Blickwinkel auf das Bekannte ermöglichen.

Sich bewusst vornehmen, ein Buch über ein bestimmtes Thema zu schreiben – funktioniert das?  
Auch wenn man einen noch so aktuellen, noch so skurrilen Stoff entdeckt – man braucht irgendeine persönliche Motivation, einen Bezug dazu. Als Autorin muss ich die Frage beantworten können: Warum will gerade ich dieses Thema darstellen? Habe ich ein unmittelbares Anliegen, diesen Stoff zu erzählen, oder geht es nur um Kalkül, weil sich etwas auf dem Buchmarkt womöglich gerade gut platziert? Ich glaube, diesen Unterschied spürt auch der Leser.

Wie viel bewusste Konstruktion gehört zum Schreiben und wie viel Intuition?
Mich erstaunt, dass mit zunehmender Erfahrung immer mehr das intuitive, unbewusste Schreiben in den Vordergrund rückt. – Wobei das Handwerk sicherlich auch mitspielt und bestenfalls verinnerlicht ist. Ich habe ja am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert. Jungen Autoren, die von dort kommen, wird im Feuilleton häufig vorgeworfen, ihre Texte seien gekonnt, aber leblos. – Wenn man sich sehr intensiv mit den handwerklichen Dingen beschäftigt, kann es tatsächlich sein, dass man auch beim Schreiben viele Entscheidungen sehr bewusst steuert. Ich habe mit der Zeit gemerkt, dass mir die spannendsten Dinge im Leben und Schreiben ungeplant passieren – das wirklich Neue lässt sich ja per Definition nicht voraussehen. Deshalb arbeite ich inzwischen sehr viel mit Notizbüchern. Ich sammle, halte die Augen offen und schaue, welche Gedanken dazu entstehen. Assoziationen beim Lesen, die eigene Biografie, aber auch Alltagssituationen, die plötzlich in einem Zusammenhang zum Schreibprozess stehen, fließen in die Arbeit mit ein.

Wann wissen Sie, dass Sie mit dem Sammeln aufhören und mit dem Schreibprozess beginnen können?
Das Sammeln hört eigentlich nie auf. Es ist eher ein begleitender Prozess. Ich muss meine Ideen- und Sprachspeicher ständig wieder anfüllen, um die Lust am Schreiben wach zu halten. Wenn man so intensiv mit einem Thema lebt, mit dieser fiktionalen Welt, die man sich erschaffen hat, dann arbeitet es unterbewusst immer weiter. Irgendwann kommt tatsächlich das Gefühl, nur noch mitschreiben, protokollieren zu müssen. Das ist dieser Moment, wenn man nicht mehr versucht, alles zu steuern. Ich glaube, das kann man trainieren: Die Kontrolle aufgeben, angstfrei werden. Überarbeiten, kürzen und straffen kann man dann im zweiten Schritt.

Isabelle Lehn wurde 1979 in Bonn geboren und lebt in Leipzig. Sie studierte in Tübingen und Leicester Allgemeine Rhetorik, Ethnologie und Erziehungswissenschaft und wurde 2011 im Fach Rhetorik promoviert. Parallel zur Promotion absolvierte sie ein Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, wo sie nach Lehraufträgen und Gastdozenturen auch als Wissenschaftliche Mitarbeiterin arbeitete. Ihr Debütroman „Binde zwei Vögel zusammen“ stand 2016 auf der Shortlist für den Ingeborg-Bachmann-Preis und wurde 2017 mit dem Förderpreis des Schubart-Literaturpreises ausgezeichnet.

Zurück

Menu