Was ist für Sie gute Literatur?
Literatur, die ich gerne lese, also ganz unterschiedliche Dinge, je nach Zweck. Ich finde es zum Beispiel toll, zur Entspannung Harry Potter auf englisch zu lesen. Sehr gute Literatur. Das Original hat Sprachwitz, der Plot ist genial. Immer wieder überraschend, gut verflochten und fantasieanregend. Dieses Wort Kunst – fatales Ding, wenn man das im Nacken sitzen hat. Der Kunstmach-Wille kann einen wunderbar bremsen. Ich versuche, das erst mal etwas tiefer zu hängen, weil ein Text sonst sehr oft umkippt in Verkünstelung. Man verliert das innere Interesse, den Antrieb.
Des weiteren ist gute Literatur etwas, das mich mitnimmt in eine Welt, die sich mir sonst nicht erschlossen hätte. Diese Welt kann von mir aus auch aus Sprache bestehen – das tut sie ja sowieso. Gute Literatur bringt mir etwas bei, und zwar nicht mit dem Zeigestab, sondern so, dass ich es selbst entdecken kann – also dass ich nicht nur meine, es selbst entdecken zu dürfen. Das gibt es ja auch: Die Leiche, die schon die ganze Zeit hinterm Sofa liegt. Dann zeigt der Autor mir sie und ich darf sie selbst entdecken. Nein, gute Literatur fängt dort an, wo meine eigene Träume, Gefühle und Gedanken angestoßen werden, wo ich vom Buch aufschaue und plötzlich die Dinge anders sehe. Es gibt dieses Leseerlebnis, man taucht ein in die fremde Welt und eine ganze Zeit lang nach dem Lesen ist die eigene Welt und der Blick auf das eigene Leben eingefärbt von dieser fremden Welt.

Hat sich die Bedeutung von Literatur für Sie im Lauf der Jahre verändert?
Bestimmt. Wie könnte es gleich geblieben sein? Etwas aber ist gleich geblieben: Es war für mich immer eine Art Lebensmitte zu lesen. Seit ich den Erwachsenen die Buchstaben entrissen habe, weil sie sie mir endlich beigebracht hatten, habe ich gelesen und gelesen.

Ist Schreiben auch immer eine Form von Eskapismus?
Eskapismus in Bezug worauf? Das Schreiben ist für mich immer eine doppelte Bewegung. Der Autor, der am Schreibtisch sitzt, zieht sich aus der sogenannten wirklichen Welt zurück. Ich bin nicht da, ich gehe nicht ans Telefon, ich kürze alle möglichen Beziehungen ab – ja, man ist abwesend. Aber das ist kein Eskapismus, denn auf der anderen Seite steht ja ein ganz intensives Anwesendsein und Dasein-Müssen in dieser Textwelt, die es ja ohne mich überhaupt nicht gibt und die ich in allem erst erzeugen muss. Und das ist es, glaube ich, was für Leute von außen immer so rätselhaft wirkt. Warum braucht jemand fünf Jahre, um einen 200-Seiten-Roman zu schreiben, der oft das Zehnfache an Text gekostet hat? Fragt man sich ja selbst auch: Warum hast du es nicht gleich so gemacht? (lacht) Weil es da eben nichts gab! Das musste ja erst mal alles erfunden werden, gedacht, gefühlt, zur Klarheit getrieben.

Wie hat sich Ihres Erachtens nach die Rolle des Autors in den letzten zehn, fünfzehn Jahren verändert?
Die Frage klingt stark nach 70er Jahre. (lacht) Erstens hatte der Autor noch eine Rolle in der Gesellschaft, zweitens gab es nur EINE Gesellschaft. Großartige Zustände. Hinter der Mauer gab es dann noch die zweite Gesellschaft. So eine schön geordnete Welt haben wir heute nicht mehr. Alles ist zusammengebrochen, hat sich aufgeteilt, die Rolle ist abhanden gekommen. Herr Grass und Herr Walser sprechen immer noch aus den Autoritäten, die damals aufgebaut wurden (und man lässt sie sprechen). Wir haben die Medienvielfalt, es gibt eine unglaubliche Menge von interessanten und klugen Stimmen, die man an tausenden von Quellen abrufen kann. Und der Autor ist natürlich eine unter diesen Stimmen. Das ist nicht mehr die Autoren-Kommentatoren-Stimme, die sich zu allem und jedem äußert. Trotzdem gibt es derzeit eine immens politische Prosa, die nicht mehr politisch ist im agitatorischen Sinn, sondern komplex politische historische Themen verhandelt. Die Frage bleibt aber natürlich: Wer nimmt das wahr und wer kann das rezipieren?

Ist dieses Abhandenkommen der klassischen Instanzen ein Verlust oder eine Chance?
Das kommt immer darauf an, wie ein Mensch sein Autorensein versteht. Und wo man seine Stärken und Schwächen hat. Ich persönlich empfinde es nicht als Verlust. Ich bin ja auch nicht Politikerin geworden oder Journalistin. Ich muss nicht das aktuelle Geschehen kommentieren und große Meinungsbildnerin sein, sondern ich bin Autorin. Die spezifische Komplexität und Anschaulichkeit, die Prosa ermöglicht, führt dann eben dazu, dass der Text ein Teil dieses Stimmenkanons wird. Und die Menschen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen, werden das schon finden.
Autoren treten natürlich auch als biografische Subjekte auf, in der Rolle als Autor. Das ist der klassische Autorendarsteller, der sich zu aktuellen Themen äußert, aber ich spreche dann eher als Bürgerin, die sich engagiert. Ich würde das nie als mein Kerngeschäft bezeichnen, auch wenn es hin und wieder Geld abwirft. Der Kernbereich ist die Literatur, das sind die geschriebenen Texte. Und da treten meine Biografie und die Tagesaktualität in den Hintergrund. Was ja auch brutal ist, wenn man dann zehn oder zwanzig Jahre später schaut, wie Texte altern – oder auch nicht. Da trennt sich die Spreu vom Weizen. Was war Mode, was war Rückenwind aus dem Zeitgeist? Das ist nichts Verwerfliches, wir leben alle darin, wir brauchen den Zeitgeist. Aber dann erschrickt man manchmal und manchmal wundert man sich. Die Texte verschieben sich gegeneinander. Qualitäten treten hervor, für die man blind war, und die werden vermutlich wieder verschwinden. Wunderbar, so lohnt sich das Lesen immer wieder.

Wie organisieren Sie Ihr Schreiben zeitlich und auch finanziell?
Wieviel Sekunden Zeit hab ich für die Antwort (lacht). Da gibt es nicht viele Antworten: Gar nicht, immer schlecht, immer zu wenig Zeit zum Schreiben, immer zu wenig Geld, dauernd der Konflikt: Schöne Anforderungen von außen fressen die Schreibzeit auf. Ich versuche, nicht erst um 18 Uhr am Schreibtisch zu sitzen, sondern das etwas früher zu schaffen. Ansonsten bin ich inzwischen dazu übergegangen, mir möglichst Auszeiten einzurichten. Seit Jahren bin ich nirgends mehr privat hingefahren, sondern nur als Autorin. Und wenn ich nicht reisen muss, sitze ich zu Hause in der Wohnung. Extrem langweilig, nichts passiert. Innen passiert natürlich eine Menge.
Der Literatubetrieb hat seine Saisonzeiten, Herbst und Frühjahr, dann reise ich, verdiene Geld. Und dann gibt es idealerweise im Sommer und Winter Kernzeiten für das Schreiben. Das Schreiben verlangt ja auch nach ganz unterschiedlichen Arten von Tätigkeiten. Manchmal muss man recherchieren, manchmal redigieren. Letzteres kann man auch auf einer Zugfahrt tun. Aber manchmal muss man eben zusammenhängend einige Wochen daran sitzen und in dieser Welt bleiben. Das sind ganz wichtige Zeiten.

Was würden Sie Nachwuchsautoren raten, um veröffentlicht zu werden?

Wenn ich das magische Rezept hätte, würde ich es nicht verraten, sondern verkaufen. (lacht) Es ist schön, dass es dieses Rezept nicht gibt. Man braucht immer auch eine Portion Glück, eine Portion Eigensinn, Großzügigkeit sich selbst gegenüber, um sich zum Beispiel diese Freiräume zu schaffen. Und eine Souveränität gegenüber den Regeln.

Durchhaltevermögen?
Das erwähne ich erst gar nicht. Als Grundvoraussetzung muss man das mitbringen. Wer kein Sitzfleisch hat, keine Geduld, keinen Biss, und auch ein gewisses Selbstorganisationstalent, der ist als Autor von langer Prosa recht arm dran. Ich habe zum Beispiel mein Leben lang gern gesessen. Für meine Mutter war das ideal. Man setzte mich als Zweijährige auf eine Spieldecke, legte das Zeug um mich herum und wenn man fünf Stunden später nach mir schaute, saß ich da noch. Ich hatte alles durchgespielt und in verschiedenen Weisen kombiniert, aber ich saß noch. Meine Mutter muss ein herrliches Leben geführt haben. Es wurde ihr erst klar, als das zweite Kind kam, dass nicht alle Kinder so sind. Ich hab mir dann vor ein paar Jahren einen Hund angeschafft, damit ich wenigstens alle fünf bis sechs Stunden aufstehe. Es gibt ja auch Autoren, der schreiben im Gehen. Die denken im Gehen, die merken sich, was sie denken, die schreiben im Hirn den ganzen Roman fertig und dann setzen sie sich hin und schreiben das ab. Dazu gehöre ich leider nicht.

Mehr über die Autorin unter www.draesner.de

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