Sören Callsen

Autor

Mirjam

Lautlos glitt die Schlange unter der Hecke entlang; keinen Augenblick verlor sie ihr Opfer aus den Augen. Sie spannte sich, dann schoss der schlanke Leib aus der Deckung und riss das zu Tode erschrockene Kaninchen ins Laub. Verzweifelt kämpfte das zerrupfte Tier gegen die Verlängerungsschnur, bis Tim plötzlich beide losließ. Er blickte in den Himmel. Da war das Abend-Blau, das er so liebte, wenn die Sonne noch nicht ganz verschwunden war, man aber schon echte Nachtluft roch, kühl und schwer. In der Ferne zog ein winziger Flieger seinen Strich in den Himmel. Tim träumte sich über hohe Berge mit lodernden Lagerfeuern in der Tiefe. Berauscht drehte er sich in den Wind, um hinaus aufs offene Meer zu fliegen - und saß plötzlich wieder an der Hecke.

Irgendetwas stimmte nicht.

Es kribbelte und sein Herz pochte, als ob er zu viel Cola getrunken hätte. Da war jemand. Unruhig drehte er sich um. Er hasste es, beim Träumen überrascht zu werden.

Niemand zu sehen. Aber er spürte es genau. Gerade wollte er aufstehen, um über die Hecke zu sehen, da kam sie um die Ecke und lächelte ihn an. Sie war ein paar Jahre älter als er, vielleicht vierzehn, und ein weißes Kleid umwehte sanft ihren seltsam blassen Körper.

„Hallo Tim“, sagte sie und hockte sich vor ihn ins Gras.

„Wer bist du?“, fragte er das Mädchen erstaunt.

Sie legte den Kopf ein bisschen zur Seite und fuhr sich durchs Haar.

„Tust du mir einen Gefallen?“.

Irgendwie nett, dachte Tim.

„Bitte grüß deine Mama von mir. Ich bin Mirjam. Sag ihr, sie soll nicht mehr traurig sein. Es geht mir gut. Machst du das?“

Tim nickte verwundert. „Woher kennt ihr euch?“.

Doch Mirjam war schon wieder aufgesprungen, winkte ihm zu und verschwand um die Ecke. „Typisch Mädchen…“, dachte er verwirrt und stand auf, um ins Haus zu gehen. In der Küche brannte schon Licht. Hoffentlich ist sie nicht zu mies drauf, dachte Tim.

Richtig gut gelaunt konnte er sich seine Mutter gar nicht vorstellen. Manchmal tat sie zwar so, als wenn alles o.k. wäre, aber er brauchte keine Sekunde, um zu sehen, dass es ihr wieder schlecht ging.

Tim zog seine Schuhe aus und schlenderte zu seiner Mutter, die an der Spüle stand und Paprika abspülte. „Oh, hallo Schatz“, begrüßte sie ihn und drückte ihm einen Kuss auf den Kopf. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und goss sich Apfelsaft ins Glas.

„Ich soll dir was ausrichten. Von so einer Mirjam“.

Seine Mutter stellte die Schüsseln mit den Nudeln und der Soße auf den Tisch und setzte sich ihm gegenüber. Während sie ihm Nudeln auf den Teller füllte, konnte er sie grübeln sehen.

„Hilf mir mal, mir fällt grad keine Mirjam ein. Von der Gemeinde?“

Tim schüttelte den Kopf. „Nee, so ein Mädchen, ich hab die auch noch nie gesehen.“

Er schob sich eine Gabel Nudeln in den Mund.

„Sie sagte bloß, du solltest dir keine Sorgen mehr machen, weil es ihr gut geht.“

Das Teewasser kochte und Tims Mutter stand auf.

„Na, da hat sie mich wohl verwechselt“.

Damit war das Thema erledigt. Nach dem Essen umkreisten sie gemeinsam die Hausaufgaben und beendeten den Tag jeder in seinem Bett mit einem Buch in der Hand.

Als das Licht aus war, fiel ihm Mirjam wieder ein. Schon komisch, dachte er und schlief ein.

Tim stand auf einer Wiese und sah in Mirjams Gesicht. Sie lächelte und ihm wurde ganz warm. „Vielen Dank, das war lieb von dir. Bitte sag ihr noch, dass ich ihre Mirjam bin, verstehst du, IHRE Mirjam. Das ist wichtig“. Sie hauchte ihm einen Kuss zu, Ihr Lächeln verblasste und das Gesicht löste sich auf.

Am nächsten Morgen hatte Tim seinen Traum vergessen und er spazierte durch einen nahezu ereignislosen Tag. Doch als er mit seiner Mutter wieder beim Abendbrot saß, fiel er ihm wieder ein. Nachdenklich sah er seine Mutter an.

„Das Mädchen, von dem ich dir gestern erzählt habe, weißt du, die dich grüßen lässt – Ich habe von ihr geträumt“.

„Na, die ist aber hartnäckig“, murmelte seine Mutter.

Tim sah sie an. Er war plötzlich ganz aufgeregt und musste schlucken. Wieder dieses Kribbeln.

„Sie hat was Komisches gesagt, Mama. Dass sie deine Mirjam ist.“

Sein Herz schlug wie wild. Er sah, wie das Gesicht seiner Mutter erstarrte. Sie setzte ihre Tasse ab, die Augen wurden ganz groß und der Mund öffnete sich, ohne etwas zu sagen.

Langsam drehte sie ihr Gesicht zum offenen Fenster, wo sich ein Stück Mond im Glas spiegelte. Es war, als wenn die ganze Welt auf einmal die Luft anhielte. Tim sah, wie seiner Mutter Tränen über die Wangen liefen.

Vorsichtig erhob er sich. Ihm war klar, dass sie jetzt allein sein musste. Er schlich hinaus in den Garten, setzte sich an die Hecke und sah hinauf in seinen nachtblauen Himmel.

„Wie schön“, dachte er, „Mama wird nie wieder traurig sein“.

Und er wunderte sich nicht, woher er das wusste.

(aus: Mirjam, Amazon KDP 2019)

Lovesong

Ich darf den Tag schon vor dem Abend loben,

denn wenn es Nacht wird, weiß ich Dich bei mir.

Bei Dir ist meine Dunkelheit gut aufgehoben,

sobald Dämonen mein Gemüt umtoben,

schickst Du sie weg - Und sie gehorchen Dir.

Ich darf den Tag schon vor dem Abend loben,

denn keine Zeit hat uns einander fremd gemacht.

Das Leben lebt, wir sind mal unten, sind mal oben,

doch immer miteinander wunderbar verwoben,

wir wachsen - Und wir geben aufeinander Acht.

Ich darf den Tag schon vor dem Abend loben,

denn jeder Tag ist auch ein Tag mit Dir.

Wenn unser Abend kommt,

entschweben wir nach oben,

und freuen uns, das nächste Stück zu proben,

verrückte Welt - Was sind wir gerne hier!

(aus: LOVESONG, neobooks 2019)

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