Mit dem eigenen Leben an die Öffentlichkeit zu gehen, macht angreifbar
Die Lektorin und Ghostwriterin Ariane Novel im Gespräch
Die Lektorin und Ghostwriterin Ariane Novel spricht über Memoirs von ADHS bis Eselwandern und über den eigenen Sound.
Ariane Novel, Sie begleiten Autorinnen und Autoren beim Schreiben von Memoirs. Was unterscheidet diese Textform von einer Autobiografie?
Menschen, die eine Autobiografie schreiben, sind in der Öffentlichkeit meistens bereits bekannt, Politikerinnen oder Schauspieler zum Beispiel. Sie erzählen rückblickend aus ihrem Leben und lassen die Leserinnen und Leser auf diese Weise daran teilhaben. Beim Memoir ist es anders: Es bietet meist keinen Rückblick auf ein gelebtes Leben, sondern ist eher auf ein Thema ausgerichtet. Als Genre eignet es sich auch für Menschen, die noch keine große Popularität haben, aber etwas Besonderes erlebt haben. Ich kann in einem Memoir zum Beispiel eine Krankheit oder einen Schicksalsschlag verarbeiten, aber auch von einer besonderen Reise oder einem außergewöhnlichen Beruf erzählen.
Wie spektakulär sollte mein Thema sein?
Eine Busreise durch Italien eignet sich natürlich nicht für ein Memoir. Aber wenn jemand zum Beispiel mit einem Esel von Stadt zu Stadt zieht, ist das schon etwas anderes. Es geht darum, die eigenen Gefühle und Erfahrungen so zu verarbeiten, dass das Erlebte über die persönliche Betroffenheit hinausweist und eine größere Leserschaft anspricht. Ein Thema sollte also gut eingebettet und auch für andere interessant oder relevant sein. In jüngster Zeit sind beispielsweise viele Memoirs zu psychischen Krankheiten und Problemen wie ADHS erschienen.
Sollte ich als Autorin auch fachlich oder sogar wissenschaftlich für mein Memoir recherchieren?
So ein Thema wie ADHS sollte schon in die aktuelle Forschung eingebettet sein. Wenn ich aber zum Beispiel ein Berufsmemoir schreibe, kenne ich mich fachlich ja bereits gut aus. Da muss ich vermutlich eher darauf achten, nicht zu sehr ins Detail zu gehen. Es ist wichtig, immer wieder einen Schritt zurückzutreten und mich zu fragen: Was interessiert mein Gegenüber wirklich? Was will ich mit meinem Buch bewirken?
Braucht ein Memoir einen Spannungsbogen?
Ja, auf jeden Fall. Beim Schreiben muss ich genau überlegen, wie ich die einzelnen Episoden setze. Und es ist mindestens genauso wichtig, einen Sound, eine eigene Sprache zu finden. Ein Memoir soll ja kein nüchterner, sachlicher Bericht sein, sondern literarisch erzählen. Über die Sprache kann ich mein Publikum in den Text hineinziehen und mitnehmen.
Darf ein Memoir auch fiktionale Elemente enthalten?
Das wirkliche Leben steht beim Memoir klar im Vordergrund. Wie auch bei der Autobiografie, besteht ein Pakt zwischen Leser und Autor: Das, was ich euch erzähle, habe ich so erlebt und ihr dürft es mir glauben. Natürlich sind Erinnerungen keine Fakten, sie sind subjektiv. Außerdem müssen Beteiligte im Rahmen der Persönlichkeitsrechte geschützt werden. Wenn ich fiktionale Elemente einfließen lasse – einen Traum, eine erfundene Begegnung – sollten diese aber immer klar als solche erkennbar sein. Darin unterscheidet sich das Memoir vom autofiktionalen Roman, bei dem der Plot im Vordergrund steht. Beim autofiktionalen Roman ist nicht immer klar, was tatsächlich passiert ist und wo der Autor oder die Autorin etwas verändert oder hinzugedichtet hat. Insofern bietet der autobiografische Roman einen gewissen Schutz, den man beim Veröffentlichen eines Memoirs nicht hat. Wer ein Memoir schreibt, sollte sich unbedingt darüber im Klaren sein, dass er mit einem Teil des eigenen Lebens an die Öffentlichkeit tritt. Damit macht man sich auch sehr angreifbar.
Kann ich bei einem heiklen oder sehr persönlichen Thema ein Pseudonym verwenden?
Das beobachte ich bei den aktuellen Veröffentlichungen nicht. Ich denke, wer ein Memoir schreiben möchte, sollte auch bereit sein, mit seinem Gesicht an die Öffentlichkeit zu treten. Das hilft dem Verlag, das Buch zu vermarkten und in den Medien zu platzieren. Bei einem Sachbuchmarketing ist es enorm wichtig, beim Publikum Neugierde zu wecken. Das gelingt am besten, wenn man die Autorin oder den Autor über soziale Medien, TV, Radio und Magazine vorstellen kann. Es wäre möglich, unter einem anderen Namen zu veröffentlichen. Aber das eigene Gesicht sollte man schon herzeigen.
Im Juni 2023 haben Sie Ihren ersten Online-Kurs bei der Textmanufaktur gegeben. Ein weiterer ist für nächstes Frühjahr geplant. Was erwartet die Teilnehmer?
Jeder bringt sich selbst und sein Vorhaben mit, das ist die Grundlage des Kurses. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erhalten Einblicke, wie Memoirs aufgebaut sind, wie erzählt wird und wie der eigene Ton gelingen kann. Anhand der eingereichten Texte oder erster Ideen können wir das Gelernte besprechen und schauen, wo es für jede und jeden einzelnen hingehen soll. Weil man beim Memoir aus dem eigenen Leben und Erleben erzählt, ist der Blick von außen besonders wichtig. Daher ist es sehr hilfreich, sich mit anderen Schreibenden auszutauschen.
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