Dr. Birgit Schreiber
»Schreiben hat mich noch nie enttäuscht«
Die Sozialwissenschaftlerin und Supervisorin Birgit Schreiber gehört zu den deutschsprachigen Pionierinnen des Journaling. Ihr eigenes Journal ist ihr gute Freundin und Coach in einem. Warum Schreiben hilft, das Leben zu meistern und wie sich das Journal als Spielwiese für den nächsten Roman nutzen lässt, das verrät sie im Interview.
Birgit Schreiber, Sie sind promovierte Sozialwissenschaftlerin, Journalistin, Supervisorin und geben Schreibtrainings. Was bedeutet Schreiben für Sie persönlich?
Es mag sich etwas dramatisch anhören, aber für mich ist Schreiben unersetzlich und ein wichtiger Teil von mir. Wenn ich Menschen treffe, die ohne zu schreiben ihr Leben meistern, dann staune ich, dass sie das schaffen. Wie ordnen sie ihre Gefühle und Gedanken ohne Stift und Papier? Wie verwandeln sie Zweifel in neue Zuversicht? Wie verankern sie Erkenntnisse in gute Gewohnheiten? Für all diese Dinge nutze ich das Schreiben und mein Tagebuch, mein Journal. Es ähnelt einer besten Freundin, der ich auch nachts um zwei mein Herz ausschütten kann. Und zugleich ist es ein Coach in der Handtasche, den ich konsultiere, um berufliche Weichen zu stellen oder eine Beziehung zu retten, in der es gerade kriselt. Egal, ob als Freundin oder als Coach – Schreiben hat mich noch nie enttäuscht.
Sie haben sich bei der Pionierin des Journaling, Kathleen Adams, zur Journal to the Self-Trainerin ausbilden lassen. Warum?
Weil der Ansatz schnell und zuverlässig funktioniert. Wenige Minuten Schreiben sorgen dafür, dass ich mich klarer, befreiter, zufriedener fühle. Es gibt Übungen für jedes Lebensthema, von strukturiert über kreativ bis hin zu Anregungen, die unser Unbewusstes ansprechen. Dass die Methoden aus dem Journal to the Self-Werkzeugkasten so wirksam sind, liegt an der jahrzehntelangen Erfahrung, die dahintersteht: Sie basieren auf den Prinzipien des expressiven Schreibens nach Pennebaker, der weltweit am besten erforschten Schreibmethode. Kathleen Adams hat sie weiterentwickelt und vermittelt sie seit Jahren an Therapeuten und Coaches.
Welche Rolle spielt das Schreiben in Ihrer beratenden Arbeit als Systemischer Coach und Supervisorin?
Es unterstützt meine Klienten und Supervisanden, etwa beim Ankommen in der Sitzung, wenn sie ihr Anliegen in einem Fünf-Minuten-Sprint in Worte fassen. Ich nutze es auch, um ein Thema zu vertiefen: Zum Beispiel, indem die Klientinnen und Klienten Dialoge oder Briefe schreiben. Ein offenes Gespräch mit dem inneren Antreiber hilft oft sehr schnell, ihn einerseits besser zu verstehen und ihm andererseits deutliche Grenzen zu setzen.
Schreiben als Selbsterfahrung und literarisches Schreiben – sind das zwei vollkommen unterschiedliche Wege?
Eines ist ohne das andere nicht erstrebenswert – jedenfalls nicht für mich; und das andere kommt aus der Memoir-Bewegung, der ich mich zugehörig fühle. Memoir schreiben heißt ja: literarisch verarbeiten, was ich erlebt habe. Und es heißt, eine eigene Stimme und selbstbewusste Perspektive entwickeln. Ulla Hahn, die erfolgreich autofiktional schreibt, erlebte das literarische Bearbeiten ihrer Erlebnisse als sehr heilsam. Wie sie bin ich überzeugt, dass unsere Geschichte durch die literarische Perspektive verändert wird. Wir selbst verändern uns. Das ist eine große Chance und setzt zugleich Selbsterfahrung und -reflektion voraus.
Wie können aus Journaling-Texten literarische Texte werden?
Das Journal ist eine Spielwiese, auf der sich alle Themen, Figuren, Fragen tummeln können, die uns bewegen. Aus Menschen, die im Journal auftauchen, weil wir etwa einen Konflikt mit ihnen lösen wollen, können lebendige Figuren für den nächsten Roman werden. Aus dem roten Faden unseres Lebens können wir die Sehnsucht der Hauptfigur weben. Den Antagonisten statten wir aus mit Eigenschaften eines Menschen, den wir nicht leiden können, was nachgewiesenermaßen erleichternd sein kann. Vielleicht sind Thrillerautorinnen und -autoren deshalb meist so friedliebende Menschen.
Gibt es einen Punkt beim Schreiben, wo man sich entscheiden sollte, welches Ziel man verfolgt – Selbsterforschung oder die Produktion eines literarischen Textes?
Unbedingt. Viele Schreiblehrerinnen und -lehrer raten, erst einmal schonungslos offen und ehrlich über das eigene Leben zu schreiben. Aus diesen Texten und ersten Versionen können wir persönlich viel Nutzen ziehen. Und sie können die Grundlage für spätere Fassungen werden, die den Erfordernissen eines literarischen Textes stärker folgen.
Haben Sie einen Tipp für alle, die gern schreiben?
Finde deine Schreibfamilie, verbinde dich mit Gleichgesinnten! Wer inspiriert dich, mit wem fühlst du dich wohl? Wen kannst du um Feedback bitten? Wer tröstet dich und macht Mut, wenn du eine Schreibflaute hast? Manchen genügt ein Schreibfreund, eine Schreibfreundin, andere schreiben beflügelt in Gruppen. Da spüren sie eine starke gemeinsame Energie, die alle individuell anspornt.
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