Was muss ich unbedingt erzählen – und was kann ich weglassen?
Der Autor und Lektor Matthias Jügler im Gespräch
Der Autor und Lektor Matthias Jügler über Schreiben und Erinnern, fremde und eigene Texte.
Matthias Jügler, in Ihrem jüngsten Roman „Die Verlassenen“ geht es um eine Kindheit in der DDR kurz vor der Wende. Was war für Sie persönlich der Auslöser oder das Drängende, gerade jetzt über diese Zeit zu schreiben?
Ich trage die Geschichte, die ich in „Die Verlassenen“ erzähle, schon gute zehn Jahre mit mir herum. Es hat gedauert, eine Form zu finden für den Text, eine Sprache, die genau das abbildet, was ich abbilden wollte. Hätte mich der wahre Fall, der hinter dem Roman steckt, der ihm Pate steht, hätte mich dieser Fall damals nicht so sehr bewegt, dann hätte ich wohl auch dieses Buch nicht geschrieben. Aber mir scheint, der Roman kam genau zur rechten Zeit raus – nun, da so viele Menschen wieder das Wort Diktatur in den Mund nehmen, in Zusammenhang mit den notwendigen Corona-Auflagen. Vielleicht tut es ab und an gut, mal zu zeigen, was eine Diktatur wirklich bedeutet und welche Konsequenzen sie für viele, viele Menschen hat, auch heute noch.
Sie sind 1984 in Halle geboren, haben also Ihre Kindheit in der DDR verbracht. In den vergangenen Jahren sind einige Romane von 'Wendekindern' erschienen, die sich literarisch mit der Zeit des Umbruchs auseinandersetzen. Warum wird darüber gerade jetzt geschrieben?
Ich glaube, dass sich in unserer Gegenwart vieles von dem entlädt, was in den turbulenten Zeiten der Wende seinen Ursprung hat. Sehe ich mir die Wahlergebnisse in Ostdeutschland an, dann glaube ich viel Frust, Wut und Enttäuschung wahrzunehmen. Insofern – ja, das Thema liegt in der Luft, es beschäftigt die Leute, damals wie heute.
Ihr Roman basiert auf historischen Begebenheiten. Welche Rolle hat die zugrundeliegende Lebensgeschichte für Sie beim Schreiben gespielt – als Vorlage, auch als Antrieb, etwas Bestimmtes zu erzählen?
Ich wollte eine Geschichte von Verlust und Verrat erzählen. Aber auch eine Geschichte von Vergebung. Dafür stand ein Stasi-Vorgang Pate, den ich zwar fiktionalisiert habe im Text, der aber im Kern wahr ist. Die Fiktionalisierung des echten Falls war mir wichtig – denn ich wollte nicht die eine Geschichte zu diesem einen Fall schreiben, sondern eine universelle Geschichte, von jemandem, der in unserer Gegenwart auf der Suche nach seinen Eltern und auch nach sich selbst ist. Der Moment, in dem alles kippt und die Vergangenheit oder das, was man dafür hielt, in einem völlig anderen Licht erscheint, dieser Moment hat mich besonders interessiert.
Ihr Buch enthält Stasiprotokolle, die sehr authentisch wirken. Wie viel Rechercheaufwand steckt dahinter?
Viel. Ich musste mir die sonderbare, menschenverachtende Sprache der Staatssicherheit aneignen. Das war tatsächlich wie eine Art Fremdsprachenstudium. Ich habe wochenlang Akten gelesen. Das ging natürlich nicht spurlos an mir vorbei, weil mir auf jeder einzelnen Seite dieser Akten klar wurde, dass sie dazu dienten, Menschen, ihre Familien und ihre Biografien zu zerstören.
Läuft man da leicht Gefahr, sich bei der Recherche zu verzetteln und den eigenen Schreibprozess zu blockieren, weil man es zum Beispiel ganz genau machen will?
Als ich die Akten erstellt habe, hatte ich schon den größten Teil des Romans geschrieben. Weil ich wusste, dass vielleicht Dreiviertel des Textes schon stehen, habe ich mich gerne ein bisschen verzettelt in diesen echten Akten, die ich gelesen habe. Auf eine gewisse Weise haben sie mir auch Bestätigung gegeben, dass es gut ist und wichtig, sich auch heute noch mit dem Unrecht der SED-Diktatur zu befassen. Denn: Dieses System ist vorbei, aber die Leute – Opfer wie Täter – leben immer noch, die haben immer noch damit zu kämpfen. Und diese Leute – Opfer oder Täter – haben Kinder, haben eine Frau, einen Mann, Tanten, Onkel. Das betrifft bis heute unglaublich viele Menschen.
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