Lyrik profitiert, wenn das Leben Einzug hält

Die Autorin Nora Gomringer im Gespräch

Die Schriftstellerin Nora Gomringer über strahlende Texte auf der Bühne, wachsende Gedichte und eine ganz persönliche Trauer.

Nora Gomringer, Sie sind freie Schriftstellerin, haben Essays und vor allem Lyrik veröffentlicht. Mir hat mal ein Lyriker gesagt, Gedichte seien die schwierigste Literaturform. Sehen Sie das auch so?
Ja, aber die beste, um mit ihr zu leben. Wer Prosa schreibt, muss sehr viel „langen Atem“, ein gutes Netzwerk hinter sich und viel Sitzfleisch haben und immer wieder denselben Ton treffen. Ich empfinde die Lyrik als „leicht“, weil sie einem Zeit und Raum gibt und nur profitiert, wenn das Leben in sie Einzug hält. Der Prosa-Schreibprozess bedarf einer gewissen Hermetik. Die „schwierigste Form“ – da muss man den Kollegen gleich fragen, wie genau er es meint, denn die Lyrik ist aufgrund ihres hohen Alters natürlich auch die verschiedenförmigste, resilienteste und Zeit-begleitenste.

… und sie ist in ihren Ursprüngen eng mit der gesprochenen Sprache verbunden. Sie stehen als Lyrikerin oft auf der Bühne und inszenieren ihre Gedichte in Videoclips. Braucht Lyrik die Stimme, das Sprechen? 
Sie kommt von der Stimme und vom Hören. Wer als Autor so denkt und sein Publikum mag und nicht allzu sehr fürchtet, kann in der Regel Freude auf so eine Bühne transportieren und Texte strahlen lassen. Auch die heftigen, düsteren. Das ist eine Kraft, die ich habe. Für die braucht es Stimme und Stimmung.

Wenn Sie mit dem Schreiben beginnen – wissen Sie dann schon, ob ein Gedicht entsteht oder ein Prosatext? 
Ja. Nur selten finde ich ein Thema, das nicht in einem Gedicht behandelt werden könnte und dann nicht schon ausreichend bearbeitet wäre. Aber manchmal passiert es doch, dass ich weiß: Hier wird ein Weg geschildert, eine Vielheit, eine Abfolge. Das bedarf der Prosa.

Wie unterscheidet sich für Sie der Schreibprozess von Lyrik und Prosa? 
Prosa sitzt, Lyrik sitzt weniger. Natürlich bedürfen beide Formen langer Prozesse der Überarbeitung, Schärfung, Verknappung, aber generell ist das eben mein Empfinden.

Sie leiten das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg, übernehmen Lehraufträge und machen noch viel mehr. Wann haben Sie da Zeit zum Schreiben?  
Ich bin ein Frühaufsteher. In der Regel bin ich ab 4:30 Uhr unter der Woche wach und beginne mit der Arbeit. Das heißt aber, dass ich dann an meinen Schreibaufträgen arbeite. Lyrik, Gedichte, Texte, die aus mir „wachsen“, die kommen nur wenige Tage und Nächte im Jahr. Seit fast einem Jahr habe ich derzeit kein Gedicht mehr geschrieben. Das kommt bald wieder. Es muss etwas anwachsen. In der Zwischenzeit drehe ich Filme, rezitiere, lerne Texte und lese welche, überarbeite sie. Ach, und sehr oft sehe ich einfach viele Filme und überlege mir, ob ich nicht viel besser als Produzentin oder Regisseurin Poesie betreiben könnte. Und dann klicke ich auf Instagram und die viele Poesie, die extra für dieses Format entsteht, bestätigt mich.

Seit Monaten sind die Theater geschlossen, es gibt keine öffentlichen Konzerte oder Auftritte, keine Lesungen vor Publikum. Wie kommen Sie als Künstlerin durch diese Zeit? 
Innerliche Sinuskurve: Es geht rauf und runter, Lähmung und Aktion. Es haben sich zum Glück viele bei mir gemeldet und Auftragsarbeiten bestellt. Ich schreibe also viel und versuche, den Deadlines gerecht zu werden.
Weil die Auftrittshonorare wegfallen, muss ich mich finanziell anders aufstellen. Die Reisen fehlen mir nicht zu dieser Zeit. Deutschlands Bahnsteige können sehr zugig sein… Aber das Auftreten und die Bühnenkollegen, das fehlt mir alles sehr. Für die Zukunft bin ich skeptisch, sehe Strukturen wegfallen und ein über Jahrzehnte aufgebautes Netz in sich zusammenfallen. Vertrauen ist nicht so schnell wieder herstellbar.  

Was inspiriert Sie in dieser Zeit, die so viel weniger Inspiration bietet? 
Für mich ist es nicht wenig Inspiration, es ist wenig Lebendigkeit. Ich bin mit dem Tod meiner Mutter beschäftigt. Auch die Toten haben ja Pflichten beziehungsweise man muss um sie herum viel ordnen und beantragen. Sie ist vor ein paar Wochen gegangen und fehlt mir schrecklich. Das deckt alles ab, lässt mich langsam und müde in die Welt schauen gerade. Diese Trauer ist auch eine Form der Welttrauer, die vom Fehlen, vom gefühlten Mangel stammt. An guten Tagen lese ich wissenschaftliche Arbeiten über Märchen, schaue viel Netflix und bin dankbar, einen Partner zu haben, der mich liebt und den ich liebe und der furchtlos ist im Umgang mit mir, so einer traurigen Menschenperson.

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