»Fantasy-Welten brauchen Tiefe.«

Die Fantasy-Lektorin Nora Marie Borrusch im Gespräch

Drachen retten und Monster beobachten gehört für Fantasy-Lektorin Nora-Marie Borrusch zum Alltag. Im Interview verrät sie, wie Weltenbau in der Fantasy gelingt und warum originelle Ideen und Klischees sich nicht ausschließen.

 

Nora-Marie Borrusch, Sie sind freie Lektorin mit einem besonderen Faible für Fantasy. Nach wie vor dominieren Übersetzungen aus dem Englischen den Buchmarkt. Warum?
Primär hat das wohl praktische Gründe. Es gibt einfach mehr englischsprachige Leserinnen und Leser, der Markt ist größer und entsprechend groß ist der englischsprachige Output und Einfluss. Außerdem sind Lizenzen an englischen Originalen oft billiger als die Arbeit mit Autorinnen und Autoren an ihrem Original.

Die keltische Mythologie ist in Fantasy-Romanen sehr präsent. – Ein weiterer Grund für die Dominanz englischsprachiger Stoffe?
Bei der keltischen Mythologie sehe ich das inhaltliche Potenzial: eine Welt vor der Technisierung, mit mystischen Wesen und Orten, die aber für hiesige Leserinnen und Leser dennoch so fremd sind, dass sie noch spannend sind. Immerhin schöpft auch Tolkien und damit das ganze Genre Fantasy aus diesem Pool. Dagegen sind „deutsche“ Stoffe aus Mythologie und Mittelalter negativer konnotiert und werden oft vermieden. Germanisches Kulturgut liegt mitunter recht nah an braunem Gedankengut oder wird leicht als solches missbraucht und verschrien. Ähnliches gilt für Märchenstoffe. Und bevor man sich den Ärger einhandelt, nutzt man es lieber gar nicht.

Oft wird Fantasy-Romanen vorgeworfen, dass sie voller Klischees stecken. Lässt sich das vermeiden oder lebt Fantasy von bestimmten Genre-Erwartungen?
Man balanciert natürlich immer zwischen Individualität und der Notwendigkeit, der Leserschaft erwartete Inhalte zu präsentieren. Aber nutzt man zu viele Klischees, wird die Handlung oder der Endtwist total vorhersehbar. Gänzlich uninteressant also. Der strahlende Held, der die holde Jungfrau aus den Fängen des bösen Drachen rettet, das klingt langweilig. Stattdessen könnte die stinkreiche Prostituierte den liebenswürdigen Drachen und sein Gelege vor dem brutalen, schwarzeneggerischen Helden retten. – Man kann Erwartungen durchaus bedienen, aber sollte willens sein, gängige Klischees auch mal auf den Kopf zu stellen.  

Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Zutaten für einen guten Fantasy-Roman?
Oft wird behauptet, Fantasy habe nichts mit unserer Welt zu tun. Ganz im Gegenteil! Ein guter Fantasy-Roman hat dasselbe Fundament wie andere Romane: nachvollziehbare, tiefgründige Figuren, die sich als Identifikationsfiguren eignen, einen guten Plot mit rotem Faden und dem gelegentlichen spannenden Twist. Unerlässlich sind auch Schreibtechniken, um zum Beispiel Action oder Stimmungen glaubwürdig darzustellen.
Was Fantasy-Romane aber von anderen unterscheidet, ist der vollumfängliche Weltenbau, der sich bis in die Figurenebene zieht. Er liefert das Setting und ist vielleicht sogar das Alleinstellungsmerkmal des Romans oder zumindest ein wichtiges Kriterium beim Kauf.
Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Damit es ein Roman wird, braucht man alles von guten Figuren bis zum Plot. Damit es ein Fantasy-Roman wird, muss man außerdem eine eigene Welt erschaffen.

Das ist sicher nicht ganz leicht. Was kann beim Weltenbau schiefgehen?
Och, alles! Das fängt damit an, dass es keinen Weltenbau gibt, sondern man halt Pferde und Schwerter erwähnt und einen König und gut is. In so eine Welt kann man nicht eintauchen, es ist dann mehr wie in einer Pfütze planschen. Aber wer mag schon Pfützen, wenn er rifftauchen kann? Der Weltenbau sollte zumindest im Kopf der Autorin oder des Autors sehr tief reichen. Es muss nicht alles in den Roman geschrieben werden. Aber wenn man es für sich klar hat, schreibt man klar. Wenn nicht: dann nicht.
Allerdings kann man selbst die allerbeste Welt langweilig beschreiben. Seitenweise umblätterbare Schilderungen will niemand lesen. Stattdessen kann man dieselben Schilderungen spannend „nebenbei“ anbringen, indem man die Figuren mit ihrer Welt interagieren lässt.

Und woran merkt man, dass die Welt in sich stimmig ist?
Die Leserinnen und Leser mögen es! Und man selbst merkt es, meine ich, wenn der Weltenbau anfängt, sich zu verselbstständigen. Am Anfang ist das reine Konstruktion. Aber irgendwann versteigt man sich in Details, die sich anfühlen, als seien sie schon da und man müsse sie nur einsammeln. Zum Beispiel: Wie misst man die Zeit in einer Welt ohne Uhren? Welche Fellfarbe kann das Monster in seinem spezifischen Habitat haben? Oder: Welche Strecke legt ein Heer in zwölf Tagen zurück? Dann ist man in der eigenen Fantasy-Welt angekommen und kann ihre Gesetzmäßigkeiten so nutzen wie die unserer Realität: ganz natürlich ohne nachzudenken.

Haben Sie noch einen Tipp für Autorinnen und Autoren, die an ihrem ersten Fantasy-Roman arbeiten?
Unsere Realität ist manchmal einfach fantastisch – mit „f“ geschrieben, ganz wichtig. Weltenbau kann unglaublich Spaß machen, weil man sich aus dem reichhaltigen Schatz unserer Welt bedienen und die Dinge betonen kann, die einem individuell wichtig sind. Entsprechend kann ich allen nur raten, unsere Wirklichkeit mal mit den neugierigen Augen von Kindern zu betrachten. Dann wird sich das, was man sagen will, und wie man es sagen will, von ganz allein ergeben. Und falls nicht, gibt es ja immer noch Fantasy-Lektorinnen und -Lektoren. 

Nora-Marie Borrusch

Nora-Marie Borrusch (*1984) studierte Musikwissenschaft, Italienisch und Russisch und beendete ihr Studium 2011 mit einem Magister in Musikwissenschaft und Anglistik/Literaturwissenschaft. Sie beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit den zahlreichen Subgenres der Fantasy sowie Kreaturen- und Monsterkonzeption. Musikalische und musikwissenschaftliche …
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