Regina Kehn

»Illustrieren heißt: Bildautorin sein«

Regina Kehn hat zahlreiche bekannte Kinderbücher illustriert, unter anderem von Michael Ende, Anna Woltz und Saša Stanišić. Im Interview erzählt sie, wie ihre Zeichnungen entstehen, warum die Gesichter immer zuerst da sind und von der Arbeit an ihrem ersten eigenen Comic.

Regina, Du hast die Bücher von Autorinnen und Autoren wie Michael Ende, Anna Woltz und Cornelia Funke illustriert. Wie fängst Du mit einem neuen Projekt an?
Zunächst lese ich den Text, auch wenn dieser manchmal noch nicht endlektoriert ist. Wenn ich in die Geschichte einsteige, dann die Figuren kennenlerne, entstehen schnell innere Bilder. Die Figuren sind aber immer zuerst da. Mit ihnen fange ich an und versuche ihnen skizzierend ein Gesicht zu geben.

Arbeitest Du dann bereits digital?
Die ersten Zeichnungen mache ich auf Papier. Ähnlich wie beim Musiker, der sich einspielt oder beim Sportler, der sich aufwärmt, muss ich mich erstmal warmzeichnen. Ich wiederhole zum Beispiel immer wieder ein Gesicht. Der Kopf mit seiner ganz eigenen Ausprägung ist etwas Zentrales. Wenn ich das Blatt am nächsten Tag wieder anschaue, denke ich vielleicht bei einer bestimmten Zeichnung: So stelle ich sie mir vor. Dann versuche ich, diese Zeichnung zu wiederholen oder das Wesentliche noch stärker zu fassen. Vielleicht ist das Kinn etwas größer oder die Augen stehen dichter zusammen? Das Gesicht kristallisiert sich während des Zeichnens nach und nach heraus – jedenfalls an guten Tagen. Es gibt natürlich auch Tage, wo ich drei Maschinen Wäsche wasche und das ganze nur innerlich bewege.

Bekommst Du Vorgaben vom Verlag oder dem Autor, wie eine Figur oder Landschaft aussehen soll?
Ich habe mir immer freie Hand gewünscht. Die Verlage, mit denen ich zusammenarbeite, wissen das und lassen sich darauf ein. Bei meinem ersten großen Auftrag, dem „Wunschpunsch“ von Michael Ende, war das noch etwas anders. Ich war sehr unerfahren, und Michael Ende natürlich eine Riesengröße. Es gab ein Treffen mit dem Verlag und dem Autor, wo ich meine Skizzen zeigte und sehr schnell merkte: Der Verlag will die Katze im Wunschpunsch als kuschelige, niedliche Identifikationsfigur. Michael Ende sagte, nein, das ist ein Straßenkater, der hat auch Ecken und Kanten. Das hat natürlich auch meine Arbeit beeinflusst. 

Das ist jetzt über 30 Jahre her. Wie sieht die Zusammenarbeit bei Buchprojekten heute aus? 
Vom Verlag bekomme ich den Text und kann loslegen, meine Ideen umsetzen. Dafür ist es wichtig, dass der Autor oder die Autorin mir die Freiheit gibt, eine eigene Bildsprache zu entwickeln. Dieses Vorschussvertrauen brauche ich, um gut arbeiten zu können. Für den Autor ist es vermutlich gar nicht so einfach, den eigenen Text loszulassen. Aber ich hätte keine Freude daran, wenn ich wüsste: Hier ist eine bestimmte Perspektive gewünscht, dort soll das Gesicht der Figur sehr nahe zu sehen sein und so weiter. Dann wäre ich ja nur ein Werkzeug für die Bilderwelt des anderen. Ich begreife mich – wie viele Illustratorinnen und Illustratoren – als Bildautorin und nicht als Dekorateurin des Textes.

Bildautorin sein, was bedeutet das für Dich?
Mir geht es um eine Aufwertung der Illustration. Denn die wird oft nur als Mittel zum Zweck gesehen und nicht als eigenständige Kunstform. Eigenständigkeit bedeutet für mich, der geschriebenen Sprache eine visuelle Sprache hinzuzufügen. Diese Geschichte in Bildern tritt mit dem gedruckten Text in den Dialog, sie kann auch mal widerborstig sein und Widersprüche formulieren. Vielleicht führt sie Figuren ein, die gar nicht im Text vorkommen oder fügt etwas anderes hinzu. Daraus entsteht etwas Neues. Und das wäre nicht vorhanden, wenn ich den Text nur redundant abbilden würde. Natürlich werde ich eine Protagonistin nicht vollkommen anders zeigen, als sie geschildert wird. Aber innerhalb der Leitplanken, die der Text mir gibt, kann ich etwas entstehen lassen. 

Derzeit arbeitest Du an einem eigenen Comic – das ist etwas vollkommen Neues, oder? 
Es gibt bereits einige Bilder- und Pixibücher, die ich geschrieben und illustriert habe. Trotzdem ist dieser Comic ein neues, großes Projekt. Ich liebe Comics – die in Deutschland leider nicht so geschätzt werden wie zum Beispiel in den Beneluxstaaten oder in Frankreich. Ähnlich wie beim Bilderbuch sind Bild und Text hier sehr eng verzahnt, enger geht es gar nicht. Bei Bild und Text Regie zu führen und damit auch spielen zu können, empfinde ich als etwas ganz Besonderes. Ich kann zum Beispiel Widersprüche herstellen, indem ich Figuren im Text miteinander sprechen lasse, der Betrachter aber bereits sieht: da passiert gleich etwas ganz anderes. Aber ich bin auch herausgefordert. So ein Comic, das ist ein Haufen Arbeit, ich habe keine Erfahrung und bin ziemlich ineffektiv. Zum Glück habe ich es noch überhaupt nicht über und es macht mir großen Spaß. 

Bis vor Kurzem warst Du auch Fernstudentin bei der Textmanufaktur. Was hat dich daran interessiert?
In meinen vielen Berufsjahren habe ich zahllose Manuskripte gelesen. Daraus ist eine Art intuitives Wissen über Literatur und das Schreiben entstanden. Ich wollte mich gezielter damit beschäftigen, wollte verstehen, wie Texte funktionieren, wie man Figuren oder eine Szene entwickelt, die Erzählperspektive einsetzt. Bisher war es eher so ein Gefühl beim Lesen, das etwas im Text gelungen oder eben nicht ganz stimmig ist. Seit dem Fernstudium könnte ich das konkreter benennen; ich schaue jetzt anders auf die Texte, die ich illustriere. Und ich habe einen neuen Zugang zu meiner eigenen Sprache gefunden. Während des Fernstudiums ist ein Text entstanden, aus dem nach meinem aktuellen Projekt ein zweiter Comic werden könnte. Außerdem ist es einfach toll, etwas Neues zu lernen und sich inspirieren zu lassen.

 

Regina Kehn

Die Hamburgerin Regina Kehn studierte Illustration an der Fachhochschule für Gestaltung, (heute Hochschule für Angewandte Wissenschaften). Seit 1990 arbeitet sie freiberuflich für zahlreiche Magazine und Kinderbuchverlage. Sie hat Bilderbücher, Titelgestaltungen und Innenillustrationen erstellt, unter anderem für Anna Woltz, Michael Ende, Cornelia …
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