Ich muss meine Figuren erst kennenlernen

Der Schriftsteller Stephan Thome im Gespräch

Der Schriftsteller Stephan Thome erzählt, wie er seinen Figuren schreibend näher kommt und warum der Hautausschlag eines chinesischen Generals für einen Roman wichtiger sein kann als zahllose Schlachten.

Im China Mitte des 19. Jahrhunderts spielt Ihr aktueller Roman „Gott der Barbaren“. Es geht um eine sehr brutale christliche Aufstandsbewegung. Wie sind Sie zu dem Stoff gekommen?
Ich beschäftige ich mich seit 20 Jahren intensiv mit China und hatte schon lange vor, darüber zu schreiben. Als ich das Buch des Historikers Stephen Platt über die Taiping-Rebellion gelesen habe, wusste ich: Das ist es. Fasziniert haben mich auch die historischen Figuren, die Platt sehr lebendig und plastisch beschreibt: der britische Sonderbotschafter Lord Elgin und der chinesische General Zeng Guofan, der mit der Niederschlagung des Aufstands beauftragt wird. Mir war beim Lesen sofort klar, dass man die zu sehr interessanten literarischen Figuren ausgestalten kann. 

Wie haben Sie sich den historischen Personen genähert und draus Romanfiguren entstehen lassen?
Zunächst habe ich sehr viel recherchiert. Im Fall des chinesischen Generals gibt es reichlich Material: Zahlreiche Biografien, viele Briefe, seine Tagebücher. Allerdings waren die wenig aufschlussreich, weil Zeng Guofan in der formelhaften Sprache der konfuzianischen Gelehrten schreibt. Trotzdem hatte ich zwischendrin immer wieder den Eindruck: Jetzt erwische ich einen Blick auf den Menschen. Zeng Guofan hat zum Beispiel an unglaublich vielen Krankheitssymptomen gelitten – Hautausschlag, Schlaflosigkeit, Verdauungsstörungen, Lähmungserscheinungen. Nach meinem Verständnis zeigt das den enormen Druck, unter dem er stand und vielleicht auch den moralischen Konflikt in dem er sich befand. Er musste einen grausamen Krieg führen, obwohl er sich eigentlich als konfuzianischen Moralisten sah. – Oder dass er so gerne Go gespielt hat. Selbst auf dem Feldzug hat er immer jemanden gesucht, mit dem er eine Partie spielen kann, weil das seine einzige Entspannung war. Solche Details sind für mich wichtig, weil sie mir den Menschen erschließen. Über Lord Elgin gibt es wesentlich weniger Material, nur eine Familienbiografie und die Briefe an seine Frau. Die sind aber sehr aufschlussreich, weil er darin mit unverstellter Stimme spricht, sich kaum inszeniert und man ihn als Menschen gut heraushört.

Kann es beim Schreiben auch hinderlich sein, viel über die historischen Figuren zu wissen?
Die Hauptgefahr bei der Recherche ist nicht, dass man zu wenig oder zu viel recherchiert, sondern dass man zu viel von dem, was man recherchiert hat, unbedingt ins Buch einbauen will. Dadurch wird der Text häufig mit Informationen überfrachtet, die für den Leser gar nicht wichtig sind. Vieles, was ich über eine historische Figur erfahre, ist erst einmal belanglos, beispielsweise die die langen Ausführungen über irgendwelche Schlachten in Zeng Guofans Tagebüchern. Aber wenn ich mit diesen historischen Figuren arbeite, merke ich irgendwann, dass sie sich von den Vorgaben lösen.

Wann hatten Sie diesen Punkt erreicht, an dem aus historischen Fakten lebendige Figuren wurden?
Damit das gelingt, muss ich die Figuren kennenlernen. Und das dauert lange. In den ersten Kapiteln, die ich schreibe, sind sie größtenteils noch Pappkameraden und verkörpern eine Idee oder einen Begriff, den ich mir von ihnen gemacht habe. Aber sie leben noch nicht. Im Lauf der Zeit, wenn ich zwei oder drei Jahre an einem Text arbeite, über die Figuren nachdenke, mir Notizen mache, nähere ich mich ihnen immer mehr an. Und je besser ich sie kennenlerne, umso freier werde ich, von ihnen zu erzählen und sie so auszugestalten, wie sie für den Roman sinnvoll sind. Es gibt da keinen Trick und auch nicht den einen Punkt, wo der Schalter umgelegt wird, sondern das ist der Prozess. Bei manchen Figuren, wie bei Lord Elgin, ging es relativ schnell. Bei anderen, wie dem chinesischem General, hat es sehr lange gedauert, bis ich das Gefühl hatte: Jetzt bin ich wirklich bei dem Menschen ankommen und kann anfangen, ihn von innen heraus, von seinem Erleben aus zu erzählen.

Und dann überarbeiten Sie die Kapitel, die Sie bereits geschrieben haben, mit dem Gefühl für die Figur?
Ja, ich überarbeite immer wieder, unzählige Male, nähere mich der Figur immer weiter an. Wenn ich in den späteren Kapiteln das Gefühl habe: Jetzt habe ich die Figur einigermaßen im Griff, dann versuche ich die früheren Kapitel auf diesen Stand zu bringen. Manchmal erfordert das, etwas völlig neu zu schreiben, manchmal reicht es auch, das Kapitel zu überarbeiten und etwas von dem Recherche-Ballast herauszustreichen. Am Anfang hängt oft zu viel unnütze Information an den Figuren. Das können zum Beispiel Zitate sein, die ich in Briefen gefunden und in den Text eingebaut habe. Die lassen sich vielleicht durch ein präzises Adjektiv ersetzen, das den Zustand beschreibt.

Wie ist es mit der Sprache der Figuren? Orientieren Sie sich da auch an den Originaltexten?
Mit der historischen Sprache bin ich vorsichtig. Die Figuren in meinem Roman reden ja nicht so wie Menschen im 19. Jahrhundert tatsächlich geredet haben. Denn das hätte eher einen komischen Effekt. Natürlich versuche ich Begriffe zu vermeiden, die vollkommen aus dem damaligen Sprachgebrauch herausfallen würden. Aber ich bin sehr sparsam mit altertümlichen Begriffen. Es geht darum, eine Sprache zu finden, die sich nicht wie ein Hindernis zwischen Leser und Figur stellt.

Fällt es Ihnen schwer, die historischen Personen beim Schreiben mehr und mehr hinter sich zu lassen – zugunsten Ihrer fiktiven Figuren?
Nein, das fällt mir gar nicht schwer. Natürlich fühle ich mich dem historischen Kontext verpflichtet. Aber ich weiß, dass die Figuren eine Interpretation sind. Ich habe keine Probleme damit, sie Dinge tun zu lassen, die durch die historischen Quellen nicht gedeckt sind. Im Gegenteil: Wenn ich das Gefühl habe, das passt mit der Essenz der Figur zusammen, dann fällt mir das leicht. Es ist schwer dahin zu kommen, aber es ist immer das Ziel, dort anzukommen.

 

Stephan Thome wurde 1972 im hessischen Biedenkopf geboren. Er studierte Philosophie und Sinologie, lebte und arbeitete zehn Jahre in Ostasien. Seine Romane Grenzgang (2009) und Fliehkräfte (2012) standen auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. 2014 wurde er mit dem Kunstpreis Berlin für Literatur ausgezeichnet. Stephan Thome lebt in Taipeh (Taiwan).

Elena Fischer

Elena Fischer studierte Komparatistik und Filmwissenschaft in Mainz, wo sie mit ihrer Familie lebt. Sie hat das Fernstudium Prosaschreiben bei der Textmanufaktur absolviert und 2019 und 2020 an der Darmstädter Textwerkstatt unter der Leitung von Kurt Drawert teilgenommen. Mit einem Auszug aus ihrem Debütroman »Paradise Garden« war sie 2021 …
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