Elisabeth Oehler
Autorin
Eine der Gewinnerinnen des Wettbewerbs autoren@narrativa 2024
Elisabeth Oehler: Leerzeilen (Auszug)
1. Teil
Zugfahrten ins Getrenntsein
Nicht selten sehnen hochbetagte Menschen den Tod herbei. Mein Vater nicht. Er zitierte ihn zu sich. Als er beschlossen hatte zu sterben, starb er. Als habe der Tod sein Kommando gehört, nahm er gehorsam Aufstellung an der Tür, verrichtete zuverlässig seinen Dienst und nahm meinen Vater fünf Tage später mit sich.
Keinen Moment haderte mein Vater mit seinem Ende. Ent-schlossen und gefasst streckte er seine Greisenhand dem Tod entgegen, als hätte er eine Verabredung mit ihm gehabt. Seine Absicht zu gehen, stand so greifbar am Bett der Palliativstation wie die Sense in der Hand seines einbestellten Gastes.
Vierzig Euro waren noch auf seinem Konto, als er alles Irdische verließ. Ohne das stattliche Vermögen, das er von seinen Eltern geerbt hatte, machte ihm das Leben keinen Spaß mehr. Bis zu seinem zweiundneunzigsten Lebensjahr hatte das Geld gereicht, um sich Gehorsam und Unterwürfigkeit zu kaufen. Dann war eines Tages niemand mehr da, der auf sein Kommando hörte. Niemand, bis auf einen. Der Fährmann.
Als ich erfuhr, dass es zu Ende ging, brach ich zusammen und heulte. Warum, habe ich erst viel später begriffen. Als ich an seinem Sterbebett eintraf, hatte er den Deal mit dem Tod schon gemacht. Es lag nicht daran, dass ich so spät gekommen war. Seinen Abgang hätte er ohne mich genauso verhandelt. Mein Abschied bedeutete ihm nichts. Dass ich die Form gewahrt habe, zählte für ihn. Darauf kam es an. Solange ich denken kann. Auch jetzt. Das war alles, was ich spürte, als ich nach seiner Hand griff, die teilnahmslos auf seiner Bettdecke lag.
„Ah, da ist ja auch Elsa“, sagte er zu Lea und Lenny, die am Fußende seines Bettes saßen. Es klang wie die Erleichterung eines Puzzlespielers, der nach langer Suche das letzte Teilchen in das Ensemble seines Geduldspiels einfügen konnte. In dem Moment wusste ich, dass ich hier keine Antworten auf meine Fragen kriegen würde und stellte auch keine mehr. Stattdessen fragte ich mich selbst immer wieder, warum sitze ich überhaupt hier? So ohne jede Bedeutung. Ohne Worte. Einfach ohne.
Denn mein Vater war ja jetzt in guter Gesellschaft. Der Tod, dieser kalte Geselle, war ihm sofort sympathisch, da bin ich mir sicher. War es die Gewissheit, dass sich der Tod nun seiner angenommen hatte, die mich beruhigte?
Als er sich einmal an den Wassertropfen verschluckte, mit denen Lea ihm die trockenen Lippen benetzte, reizte mich seine Hilf-losigkeit zum Lachen. Es war ein Reflex, den ich nicht steuern konnte und der der Situation etwas Unwürdiges verlieh. Was gibt es denn da zu lachen, fauchte er mich an. Aber nicht einmal dafür fühlte ich so etwas wie Scham. Sein Ekel-Alfred-Programm ödete mich an. Ich hätte umgeschaltet, wenn das möglich gewesen wäre. Aber ich fing mich wieder und blieb sitzen. Unberührt und ohne jede Verbindung zu dem, was hier geschah. Ich fühlte mich so stumpf, dass meine Empfindsamkeit nicht einmal dazu reichte, mich über mich selbst zu wundern. Im Nachhinein denke ich, ich hätte ihm einfach die Hand geben, ihm ‚Auf Wiedersehen‘ sagen und das Zimmer verlassen sollen. Ein solcher Abschied wäre angemessen gewesen und hätte uns beiden unsere Würde gelassen.
Lea war davon überzeugt, dass ich es eines Tages bereuen würde, wenn ich mich nicht von meinem sterbenden Vater verabschieden würde. Die Angst vor einer solchen Reue spürte ich nicht. Trotzdem war ich gekommen. Ich denke, ich tat es weder für meinen Vater, noch für mich, sondern für Lea. Für sie hatten solche Dinge eine Riesenbedeutung und ich wollte ihr das Gefühl geben, dass mir ihre Ratschläge wichtig waren.
Als ich schließlich an seinem Bett stand, hatte Lea schon zwei Tage Sterbebetreuung hinter sich, bei der sie sich mit Lenny abgewechselt hatte. Als uns der Anruf aus dem Krankenhaus erreichte, hatte sie sofort alles stehen und liegen gelassen und war zu ihm gefahren. Am Sterbebett wechselten wir uns nun zu dritt ab: Lenny, Lea und ich. Im Gegensatz zu mir nahm ich an Lea und Lenny ein echtes Bedürfnis wahr, diese letzten Stunden bei meinem Vater zu verbringen, selbst als er gar nicht mehr an-sprechbar war und auf unser Händedrücken nicht mehr reagierte.
Ich selbst saß auf meinem Stuhl an seinem Bett, suchte auf seinem Gesicht und an seinen Händen nach Merkmalen, die durch die jahrzehntelange Vertrautheit und den bevorstehenden Verlust derselben so etwas wie Kummer oder das Bedürfnis des Fest-haltens in mir auslösten. Aber nichts dergleichen ereilte mich. Deshalb sah ich während meiner Wachezeiten mehr in die Landschaft hinter dem Fenster als in die Niederungen und Erhebungen im neun Jahrzehnte alten Antlitz meines Vaters. Obwohl die Aussicht aus dem Fenster des Krankenzimmers nicht viel zu bieten hatte: Auf Augenhöhe befand sich ein weiterer Trakt des Krankenhauses, auf dessen grauem Flur ich dem Pflegepersonal zusehen konnte, wie es von Zimmer zu Zimmer ging. Dahinter erbarmte sich zu meinem Glück die Natur in Gestalt der Krone eines riesigen Laubbaumes vor einem wechsel-haften Himmel. Wenigstens sie, schien es mir, ließ sich von der tristen Szenerie nicht beeindrucken und blieb komplett unbe-teiligt, was meinen Aufenthalt an der Seite meines sterbenden Vaters betraf. Ihre unbeteiligte Schulter, die sie zeigte, zog immer wieder meinen Blick auf sich, weil mein Gefühl sich mit ihrer Einstellung deckte.
Es war seltsam und fühlte sich gleichzeitig unerwartet leicht an. Ich konnte zwischendurch aufstehen, meinem Harndrang durch den Gang zur Toilette nachgeben und sogar die Spültaste drücken, ohne Rücksicht zu nehmen. Ja, ohne Angst zu haben, dass ich es ihm mal wieder nicht recht machte. Dass er es als Mangel an Respekt darstellte, wenn ich seinen endlosen Monolog unter-brach, weil ich zur Toilette musste und es deshalb in der Regel hinauszögerte, bis die Krämpfe im Unterleib so stark wurden, dass ich mich durch aufeinandergepresste Oberschenkel und Bisse auf die Unterlippe von ihnen abzulenken versuchte. Nicht einmal still sitzen kannst du! Was für ein unruhiger Geist! Dass er mir vorwarf, ihn durch die Toilettenspülung unwiederbringlich aus seinen anspruchsvollen philosophischen Gedanken zu reißen. Was gibt es denn schon wieder so Wichtiges?
Auf einmal durfte mir hier neben ihm alles Mögliche einfallen. Auf einmal durfte ich Bedürfnisse haben und ihnen nachgehen. Durfte in meinen Gedanken abschweifen von seinem endlosen egomanischen Gelaber, das mich nicht meinte. Und selbst wenn. Er fragte mich eh nicht nach meiner Meinung. Auf einmal durfte ich neben ihm gedankenverloren in die Wolken schauen, unkon-zentriert sein und träumen. Eine Beschäftigung, die ich für mich irgendwann, viel zu spät, aber immerhin eines Tages als über-lebenswichtig erkannt hatte. Eine Beschäftigung, die mich dazu befähigt, zu sein, wer ich bin. Die mir Raum gibt, die Platz schafft, damit sich in mir und um mich herum ausbreiten kann, was die Voraussetzung ist, dass ich erkenne und begreife: Leere, Leere, Leere.
Ich saß am Krankenhausbett meines Vaters und wartete auf seinen Tod. Viel länger als nötig. Schon bevor ich zu ihm aufge-brochen war, wusste ich, dass er das Gefühl meiner Leere nicht mehr besiegen würde. Mein Zustand in ihr fühlte sich erhaben an. In ihr fühlte ich mich unangreifbar. Und trotzdem entließ ich mich nicht selbst. Es war die Stationsschwester, die am Ende meiner Nachtwache plötzlich in der Tür stand und mich aufforderte zu gehen. Sie sind schon viel zu lange hier, erklärte sie mir. Wegen Corona dürfe ich eigentlich nur eine Stunde pro Tag da sein. Es tue ihr leid. Aber diesmal sei das leider so. Widerstandslos erhob ich mich und verließ das Zimmer. Ich war schon viel zu lange hier. Da hatte die Schwester recht.
Als ich Lea anrief und ihr von unserem Besuchsverbot berichtete, war sie fassungslos. Sie würde schon einen Weg finden, damit unser Vater nicht alleine sterben müsse, sagte sie. Lenny habe sich auch schon unerlaubt zu seiner lungenkranken Frau geschli-chen, als alle Krankenhäuser für Besucher geschlossen waren.
Ich staunte über Leas Energie und die Unzweideutigkeit ihrer Absicht. Was nur erhoffte sie sich von dem Moment, wenn Papa in ihrer Gegenwart starb, fragte ich mich und erklärte ihr, dass ich jetzt wieder nach Berlin zurückfahren würde. Ich nahm den nächsten Zug und fuhr weg von meinem Vater. Weiter und immer weiter weg. Es war eine Zugfahrt ins Getrenntsein, wie ich sie schon immer mochte.
Frische Wäsche voll sterbender Muscheln
„Es war herrlich! Stundenlange Spaziergänge durch sandige Dünenlandschaften. Klar, der Wind ist rau und pfeift einem ordentlich um die Ohren. Aber wenn man warm angezogen ist…“ Ich habe nur aus Höflichkeit nach seinem Urlaub gefragt. Weil ich den Nachbarn von gegenüber zum ersten Mal nach längerer Zeit wieder auf der Straße treffe; am Vormittag, als ich vom Sterbebett meines Vaters aus Hamburg zurückgekehrt bin. Seine Antwort schnürt mir die Kehle zu. Ich beginne zu frösteln, als ob ich für die Jahreszeit zu kalt angezogen sei. Am liebsten würde ich das Gespräch sofort beenden und mich so schnell wie möglich davonstehlen.
„Dafür ist der Himmel da oben unendlich weit“, schwärmt mein Nachbar. Von einer Sekunde auf die andere habe ich das Gefühl von klammen Klamotten auf der Haut, mit denen ich stundenlang durch Nieselregen laufen muss, das Gefühl feuchter, klebriger Hände, die ich ins Salzwasser tauche und danach notdürftig an den Hosenbeinen abwische. Habe den Geruch verwesender Muscheln in der Nase, die ich in die Anoraktaschen stecke, ohne zu wissen, dass sie im Innern aus einem Muskel bestehen, der abstirbt, wenn man sie zu lange der Trockenheit aussetzt und den Geruch des Sterbens verbreitet, wenn man sie nicht rechtzeitig zurück ins Wasser setzt. Ich spüre wieder, wie sich die Taubheit in den dünnen, vor Kälte schlotternden Gliedmaßen anfühlt und sich die unbändige Sehnsucht nach Trockenheit und Wärme einstellt.
„Die Seeluft soll ja extrem gesund sein. Wegen des Jodgehalts“, sagt mein Nachbar. Plötzlich sehe ich die Nordseelandschaft durch einen wässrigen Schleier, salzig und verschwommen vor mir. Sie löst sofort den Reflex in mir aus, die Nase hochzuziehen und mir mit dem Ärmel meines Anoraks Rotz und Wasser von der Nase und aus den Augen zu wischen. Da ich den Kopf ständig gesenkt halte, sehe ich nur Sand vor mir. Nassen, feinkörnigen, grauen Sand, in dem ich mit den Kreppsohlen meiner Kinder-schuhe scharre. Erstarrt in der Hoffnung, nicht angesprochen zu werden. Ich will kein Verstecken in den Dünen spielen, kein Bäumchen-wechsel-dich oder Fischer, Fischer, wie tief ist das Wasser. Ich will nur hier stehen, in Ruhe gelassen werden und mich darauf konzentrieren, den schneidenden Schmerz auszu-halten, der unter meinen Rippen, die ihn im Klammergriff halten, wütet. Dafür brauche ich die ganze Kraft meines Körpers, den unser Kinderarzt als unterernährt eingestuft hatte. Einen anderen Ausweg, meinen Aufenthalt hier auszuhalten, sehe ich nicht.
Ich hasse die Nordsee. Und den weiten unendlichen Himmel über ihr habe ich nicht gesehen. Und wenn, dann faszinierte mich seine Unendlichkeit nicht wie ein Versprechen oder ein Zauber. Wenn, dann drohte mir die Weite dieses Himmels mit ihrer Unüberwind-barkeit, mit ihrer Übermacht, gegen die ich nicht ankam, mit ihrer Unmissverständlichkeit, dass ich hier gefangen war, mutter-seelenallein und unendlich weit weg. Wenn, dann sah ich den Wolken nach, die es eilig hatten, an mir vorbeizuziehen, ohne sich meiner zu erbarmen und mich mitzunehmen. „Ich war zuletzt als Kind da“, erkläre ich dem Nachbarn. Bis heute hasse ich Sylt-Aufkleber an Kofferraumklappen, Schlüsselanhänger mit Rob-benbabys aus hellgrauem Fell, Schmuckkästen mit aufgeklebten Muschelhälften und Griespudding mit Trockenpflaumen. Ich will nicht an die Nordsee erinnert werden. Ohne zu wissen, warum.
„Ich muss dann mal wieder. Sieht nach Regen aus. Meine Wäsche hängt noch draußen“, verabschiede ich mich, als ich mich plötz-lich an frische weiße Handtücher erinnere. Verstört stehe ich wenige Minuten später vor meinem Wäscheschrank. Als ich ihn öffne, habe ich vergessen, was ich hier suche. Es hatte irgend-etwas mit weißen, frisch gewaschenen Handtüchern zu tun. Ohne recht zu wissen warum, nehme ich den Stapel mit den alten Exemplaren heraus, die ich schon seit Jahren nicht mehr benutzt habe. Denn ihre ursprüngliche Flauschigkeit ist längst unzähligen Waschgängen zum Opfer gefallen, so dünn ist ihre Substanz oder was davon noch übrig ist. Aber nicht die Dürftigkeit des Stoffs schreit mich auf einmal an wie eine längst vergessene Stimme aus der Vergangenheit. Es ist der kleine längliche Aufnäher am Rand eines der Handtücher, auf den mit rotem Garn die Initialen L.E.L.Goldbach gestickt sind. Deutlich lesbar heben sie sich vom weißen Stoff des Aufnähers ab. Bei diesem Anblick stockt mir der Atem und mein Herz beginnt zu rasen. Ein Muster ohne Wert, höre ich die Stimme meiner Mutter hinter mir, das hat längst ausgedient. Ausgedient und wertlos hat das Handtuch mit den eingenähten Initialen Jahrzehnte in meinem Wäscheschrank über-wintert. Unbeachtet, ja vergessen, bis es mich plötzlich nach mehr als vierzig Jahren aus meinem Berliner Schlafzimmer zurück an die Nordsee katapultiert.
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