Juliane Sarnes
Autorin
Eine der Gewinnerinnen des Wettbewerbs autoren@narrativa 2024
Juliane Sarnes: SKÜS (AUSZUG)
Das Schluckloch
Bernau in der Mark. Donnerstag, 23. April 1598
Bartholomäus Goeritz hob das hölzerne Kreuz und wandte den Blick zum Himmel. Ein Adler kreiste im lichten Blau. Goeritz schloss die Augen. Was nach einem stummen Gebet aussehen sollte, erfolgte im Wesentlichen, um sich des Lachens zu enthalten.
Wie genau Bürgermeister Hentze gestolpert war, hatte Goeritz nicht gesehen. Als Propst und oberster Inspektor des Bernauischen Kirchspiels schritt er dem Festumzug voran, von der Spitalskapelle vor den Toren zur Marienkirche, wo gleich die große, die eigentliche Dankesmesse für den Sieg der Bernauer über die ketzerischen Hussiten gefeiert würde. Des Bürgermeisters schrilles Juchzen jedoch hatte er vernommen, auch das prompt darauf folgende, breit aufsitzende Plumpsen und das höflich verhaltene Prusten der Augenzeugen.
Als Goeritz sich umwandte, war Hentze bereits wieder auferstanden. Und zwar wie es sich für einen gefallenen Herrscher gehörte: Indem er die Angelegenheit auf die Sachebene hob und die durchlittene Probe seiner Demut – ein größeres Publikum hätte er nur während der Christmette finden können – ebenso ignorierte wie zuvor das jahrzehntealte Schlagloch in der Mühlenstraße. Maßnahmen mussten angeordnet, die Fährde öffentlicher Sicherheit beseitigt werden. Umgehend. Stadtschreiber Petri, das rechnete der Propst ihm hoch an, legte dem Herrn Bürgermeister einen geeigneteren Zeitpunkt für die Bearbeitung straßenbaulicher Fragen ans Herz.
Allein er wurde nicht erhört, weil die Sache am Ende nur wieder liegen bliebe. Ratsherren und Handwerksmeister seien bereits versammelt - und wenigstens darum bemüht, ihre Heiterkeit zu verbergen. Wenn auch, wie der Bürgermeister nicht ohne Tadel feststellte, mit gleichem Erfolg wie bei der Wartung der Mühlenstraße: äußerst bescheidenem. Die Maurer wollten sich Schludrigkeit nicht vorwerfen lassen. Sie hätten ihr Möglichstes getan, es wäre nur eben kein Mauerwerk zu richten und fiele daher nicht in ihren Zuständigkeitsbereich. Ähnliches sprachen die Schmiede, die Zimmerleute und die Steinmetze. Als aber selbst der Pflasterer erklärte, er sei mit seiner Kunst am Ende, wurde der Bürgermeister unwillig, und sein Stellvertreter, der Prokonsul Michel Kogge, pflichtete ihm bei, es wäre doch wohl in einer zivilisierten Stadt kein Ding der Unmöglichkeit, eine beschädigte Straße auszubessern.
Die Handwerker drucksten herum, scharrten mit den Füßen und bemerkten mit Seitenblick auf den Propst, dass es sich hier nun einmal nicht um ein gewöhnliches Loch handelte. Und die umstehenden Bürger nickten dazu und raunten vom Kurfürsten selig, der Großen Glocke und ihrer unrechtmäßigen Hinwegnahme, wie es schon ihre Großväter getan hatten.
Nicht wenige hielten die Delle, welche die Glocke dazumal in die Straße schlug, für ein unantastbares Mahnmal. Ein göttliches Fanal gegen Begehrlichkeit und Gier. Das wusste der Propst, und prinzipiell stritt er die Existenz von Wunderzeichen nicht ab. Natürlich nicht. Nur trieb der Bernauische Wunderglaube mitunter bizarre, gar gefährliche Blüten, die beizeiten gestutzt werden wollten. Seit vierundzwanzig Jahren war Goeritz Propst von Bernau.
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