Ich brauche Leere, um schreiben zu können
Die Autorin und Gewinnerin des Wettbewerbs autoren@narrativa 2024 Elisabeth Oehler im Gespräch
Elisabeth Oehler gehört zu den Gewinnerinnen des narrativa-Schreibwettbewerbs. Im Interview spricht sie über ihr autofiktionales Romanprojekt, den Wert von innerer Leere und wie Schreiben beim Verstehen hilft.
Elisabeth Oehler, bei der narrativa haben Sie aus Ihrem autofiktionalen Romanprojekt gelesen. Worum geht es?
Um eine Frau, Elsa, die auf ein Handtuch mit eingestickten Initialen stößt. Dieses Handtuch katapultiert sie zurück in ihre Kindheit und den Aufenthalt in einem Kinderkurheim. So begreift sie, was die damalige traumatische Erfahrung für ihr späteres Leben bedeutet.
Sie sind Jahrgang 1970. Gab es diese Heime in Ihrer Kindheit denn noch?
Das ist wenig bekannt, aber tatsächlich wurden in den 1970er und 1980er Jahren – mitunter sogar Anfang der 1990er Jahre – noch Kinder in solche Heime verschickt. Ich war das erste Mal als Fünfjährige dort und habe nicht verstanden, warum meine Eltern mich einfach weggegeben haben, in eine völlig fremde Umgebung. Dort gab es niemanden, der mich in meinem schrecklichen Heimweh getröstet hätte. Die Art des Umgangs war wahnsinnig herzlos. Ich habe gesehen, dass Kinder ihr Erbrochenes essen mussten oder dass sie vor der Gruppe lächerlich gemacht wurden, wenn sie eingenässt hatten. Man durfte keinen Kontakt zu den Eltern haben, Anrufe waren nicht erlaubt. Von solchen Erlebnissen berichten viele Betroffene – bis hin zum sexuellen Missbrauch. Aus Studien und Zeitzeugenberichten weiß man, dass viele dieser Heime noch nach der schwarzen Pädagogik der Nazi-Zeit geführt wurden. Da hatte oftmals gar kein Umdenken stattgefunden.
Haben diese Erinnerungen den Anstoß für Ihren Roman gegeben?
Das Manuskript ist aus sehr vielen Miniaturen entstanden, die ich im Laufe von 20 Jahren geschrieben habe. Darin geht es immer wieder um die Frage: Warum ist meine Protagonistin zu der geworden, die sie ist? Die geschilderte Erinnerung, das Handtuch mit den Initialen, war wie ein letztes Puzzlestück. Ich hatte vorher nie die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Miniaturen hergestellt und war dann selbst überrascht, als sie plötzlich sichtbar wurden.
Welche Rolle spielte das Fernstudium Prosaschreiben bei der Textmanufaktur für Ihren Roman?
Ich habe gemerkt, dass ich mit meinen Texten auf der Stelle trete. Der Austausch mit anderen Schreibenden war wichtig, um mich weiterzuentwickeln. Und auch die technische Seite des Schreibens hat mich gereizt: mal zu lernen, wie das funktioniert und mein theoretisches Wissen – ich habe Literaturwissenschaft studiert – dann auch konkret anzuwenden.
Sie arbeiten als Schreibtrainerin, geben Seminare für verständliches Schreiben, beispielsweise in Behörden. Gibt es Berührungspunkte zwischen Ihrem Beruf und dem literarischen Schreiben?
Ich finde erstmal die Unterschiede spannend: Im beruflichen Kontext, in Verwaltungen, Firmen oder an der Universität, ist Schreiben Mittel zum Zweck. Ein Text soll bestimmte Informationen möglichst gut vermitteln. Beim literarischen Schreiben ist das anders. Natürlich habe ich auch eine Botschaft, aber die möchte ich über die Kunst transportieren. Mir ist der Schreibprozess an sich sehr wichtig. Literarisches Schreiben ist für mich in erster Linie ein Werkzeug des Verstehens.
Schreiben heißt also: Verstehen. Können sie das genauer erklären?
Ich nehme Verstörungen sehr stark wahr und brauche oft lange, um solche Erlebnisse – gute oder schlechte – zu verstehen und zu verarbeiten. Irgendwann, manchmal erst Jahre später, setze ich mich hin und schreibe darüber. Dabei ergründe ich, wie es zu dieser Verstörung kam und welche Bedeutung sie für mich hat. Erst durch den Prozess des Schreibens wird das fassbar. Die Miniaturen sind alle aus solchen Erlebnissen entstanden.
Der Arbeitstitel Ihres Romans ist „Leerzeilen“. Warum?
Das Empfinden von Leere ist ein existentielles Thema im Roman. Und es ist die Voraussetzung dafür, dass ich überhaupt schreiben kann. Viele sehen Leere als etwas Unangenehmes, Inspirationsloses. Für mich ist es genau das Gegenteil. Ich meine damit einen Raum, der sich öffnet und den ich selbst füllen kann. Beim Laufen und Schwimmen in der Natur passiert das oft. Oder wenn ich mir eine Auszeit nehme und zum Schreiben allein wegfahre. Das heißt nicht, dass so etwas immer funktioniert. Aber es sind Wege, um diesen Raum fürs Schreiben zu öffnen.
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